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Fund des Monats

Dezember 2002: Der Lutherkrug von Merseburg

Mai 1999: Die Ausgrabung in der Großen Ritterstraße in Merseburg geht ihrem Ende zu. Der letzte Keller auf dieser Parzelle kann aus Zeitgründen nicht mehr von Hand ausgegraben werden – die Verfüllung wird mit einem Mini-Bagger ausgelöffelt und von den Archäologen anschließend mit Schaufel und Kelle nach Fundstücken durchsucht. Plötzlich halten sie ein Gefäßunterteil in der Hand, die reiche Verzierung animiert zu intensiver Suche nach weiteren Scherben. Rasch wird der restliche Abraum erfolgreich nach zugehörigen Scherben durchkämmt.

Sommer 2002: Der Fund wird in die Restaurierungswerkstatt des Landesamtes für Archäologie eingeliefert. Er lässt sich nahezu vollständig zusammensetzen (Abbildungen 1 und 2). Bei dem Gefäß handelt es sich um einen sogenannten Reformationskrug aus Waldenburger Steinzeug, der in der 2. Hälfte des 16. Jahrhundert hergestellt wurde. Beschädigungen am Fuß belegen, dass der Krug ursprünglich eine Zinnmontur besaß.

Was aber bedeuten die zahlreichen Figuren auf dem Krug? Welche Geschichte erzählen sie?

Das Bildprogramm kann in zwei Teile gegliedert werden: den Sündenfall (Abbildung 3) und die Reformatoren Luther und Melanchthon.

Zunächst zu den Reformatoren. Sie rahmen die biblische Szene ein. Als Universitätsprofessoren tragen sie einen pelzbesetzten Talar und halten je ein beziehungsweise zwei Bücher in ihren Händen. Die Identifizierung der links stehenden Person als Martin Luther ist zweifelsfrei (Abbildung 4). Die rechts stehende Person, sehr wahrscheinlich Philipp Melanchthon, fällt durch einen recht hageren Kopf auf, wie man sie auch von Melanchthondarstellungen bei Cranach kennt (Abbildung 5). Der Sündenfall ist in einem Bild verdichtet dargestellt. Zu erkennen ist in zentraler Position der Baum der Erkenntnis. Rechts und links davon befinden sich Adam (Abbildung 6) und Eva mit je einem Apfel in der Hand (Abbildung 7). Eine um den Baum gewundene Schlange blickt auf ein katzenartig beziehungsweise affenartig gestaltetes Tier. Eine Deutung der Schlange als Symbol der Verführung ist offensichtlich (Vergleich 1. Buch Mose).

Wie verhält es sich mit der Katze beziehungsweise dem Affen (Abbildung 8)?

Die Katze ist kein ›starkes‹ Tier in der christlichen Bildsprache. Ihre Gleichsetzung mit dem Weiblichen (Eva gleich Verführung), beruht auf einer Verbindung ihres nächtlichen Treibens mit dem lunaren Element. Der Affe ist im Mittelalter eines der bekanntesten Symbole für das Böse und die Sünde. Im ›Physiologus‹ (›Der Naturkundige‹) wird er als Teufelsabbild beschrieben. Die Katze beziehungsweise der Affe betonen auf dem Krug das Moment der Verführung, der Sünde. Links des Baumes befindet sich ein Geflügel (Abbildung 9), dessen Kopf in Richtung Luther zeigt. Zoologisch überzeugend ist eine Ansprache als Gans, aber auch Schwan und Pelikan sind aus ikonologischen Gründen denkbar.

Der Reihe nach: Die Gans gilt als Symbol der Wachsamkeit. Hintergrund dieser Deutung ist die Tatsache, dass der Weckruf der heiligen Gänse der Juno es dem Verteidiger des Kapitols, Marcus Manlius, im Jahre 387 vor Christus ermöglichten, Rom vor den Kelten zu retten. Bezogen auf den Krug heißt dies: in einem allgemeinen Sinn warnt die Gans vor der Sünde und der Verführung. Engere Bezüge zur christlichen Symbolik ergeben sich aus einer Ansprache als Schwan. Hier sind zwei Möglichkeiten zu unterscheiden: einerseits gilt der Schwan als Sinnbild Christi, andererseits symbolisiert der Schwan den Reformator Luther.

Der Hintergrund dieser Interpretation erfordert einen längeren Kommentar. Vorauszuschicken ist, dass der Nachname des böhmischen Frühreformators Jan Hus sich aus einer Abkürzung seines Geburtsortes Hustinetz herleitet, ›hus‹ aber zugleich im Tschechischen ›Gans‹ bedeutet. Angeblich soll Hus vor seiner Verbrennung (1415) auf dem Konzil von Konstanz geäußert haben, dass ihm – der ›Gans‹ - in hundert Jahren ein Schwan folgen wird, der seine reformatorischen Ideen nicht mit dem Leben bezahlen werde. Die neuere historische Forschung weist diese Prophezeiung nicht Jan Hus zu, sondern hält sie für eine nachträgliche Erfindung des lutherischen Umfeldes. Wie auch immer es im Einzelnen gewesen sein mag: der Schwan ist ein Erlösungsmotiv. Nun zum Pelikan. Zoologisch gesehen spricht zugegebenermaßen nicht viel für eine solche Deutung. Es lassen sich aber gewichtige Argumente zusammenführen.

1. Der Pelikan kommt von Natur aus allenfalls in der südosteuropäischen Peripherie vor. Die Menschen Mitteleuropas – und damit auch der Töpfer und Modelschneider – werden dieses Tier vielmehr durch das vom ›Physiologus‹ vermittelte Wissen denn durch eigene Anschauung kennen. Folglich kann es sich durchaus um eine versuchte und nicht besonders gelungene Pelikandarstellung handeln.

2. In der christlichen Bildsprache ist der Pelikan ein ausgesprochen ›starkes‹ Tier: es verkörpert die Passion Christi. Füttert der Schwan seine Jungen, hinterlassen die herausgewürgten Fische auf seinem Federkleid blutige Flecken. Diese werden mit dem Blut Christi gleichgesetzt.

3. Das letzte Argument bezieht einen Reformationskrug aus Göttingen in die Diskussion mit ein.

Dieser zeigt an übereinstimmenden Elementen neben Luther und Melanchthon gleichfalls den Sündenfall. Zwischen dem Sündenfall und Luther befindet sich ein florales Motiv. Am überzeugendsten ist eine Ansprache als Passionsblume (Passiflora caerula). Diese Pflanze ist in der christlichen Symbolik das  Gegenstück zum Pelikan. Der Name der Blume ist Programm: als Elemente aus Christi Passion werden gedeutet: der kronenartige Kelch erinnert an die Dornenkrone Christi, die fädigen Kronblätter an die zerrissenen Kleider Jesu, die Fruchtträger an die Säule, an der Jesus hing, der oberständige Fruchtknoten an den in Galle getränkten Schwamm, die drei Narben an die Nägel, die fünf Staubblätter an die fünf Wundmale, die brotlaibähnlichen Staubbeutel an die Schlagwerkzeuge und die fünf Kelch- und Kronblätter an die zehn Apostel, ausgenommen Judas, welcher Jesus verriet und Petrus, der Jesus dreimal verleugnete.

Zusammengefasst: Das Geflügel ist in jedem Fall ein Sinnbild für das Gute, für die Erlösung. Wie lassen sich die bisher beschriebenen einzelnen Komponenten inhaltlich miteinander verbinden? Kern des Bildprogramms ist die Frage: wie ist eine gottgerechte Beziehung zwischen dem menschlichen Sünder und dem Schöpfer möglich? Vor der Reformation versuchten die Menschen sich die Gnade Gottes zu erkaufen, etwa durch Schenkungen und Stiftungen sowie insbesondere durch den weit verbreiteten Ablasshandel (Johann Tetzel).

In der Theologie Martin Luthers ist der Mensch als Sünder geboren und die Gerechtigkeit Gottes kann nicht durch menschliche Leistungen bewirkt werden – sie wird durch die Gnade Gottes (sola gratia) gewährt. Dieser Krug belegt eindrucksvoll, dass die Lehre Luthers zügig über die engeren theologischen Zirkel hinauswirkte und eine anhaltende Breitenwirkung entfaltete. Die verehrten Protagonisten der Reformation, Luther und Melanchthon, hielten auf profanen Gebrauchsgegenständen Einzug in den Alltag der Menschen. Der Merseburger Reformationskrug ist ein hochbedeutender Fund für die Geistesgeschichte Mitteldeutschlands. Hier sind zahlreiche Orte mit dem Leben und Sterben der Reformatoren verbunden. Zu nennen sind Eisleben (Geburts- und Sterbeort Luthers), Erfurt (Studienort Luthers), Leipzig (die berühmte Disputation zwischen Luther und Eck fand hier statt), die Wartburg bei Eisenach (Luthers Bibelübersetzung) und natürlich Wittenberg, der Ort an dem Luther und Melanchthon jahrzehntelang lehrten. Aus Sachsen-Anhalt, dem Kernland der Reformation, ist bisher kein zweiter Krug aus den zahlreichen Stadtkerngrabungen der letzten Jahrzehnte bekannt geworden.

 

Die Aufnahme des Reformationskruges in die Archefactum-Reihe des Landesmuseums in Halle speist sich nicht nur aus dieser Einzigartigkeit, sondern vor allem aus der großen Bedeutung der Reformation, die im Jahre 1517 (Thesenanschlag) in Wittenberg ihren Ausgang nahm.

Übrigens: wie ist der Krug nach Merseburg gelangt? Wir wissen es nicht, aber vielleicht hat ihn ein Student als Erinnerung an seine Studienzeit aus Wittenberg mitgebracht.

Einzigartig?

Nicht ganz: Ein Vergleichsfund aus der staatlichen Galerie Moritzburg in Halle zeigt, wie produktiv die Waldenburger ›Lutherkrugmanufaktur‹ war (Abbildungen 10 und 11). Nicht nur geistige, sondern auch technische Revolutionen begleiten die Reformation – auch das sehen wir am Lutherkrug, auch sie verändern den Alltag der Menschen entscheidend. Das Material des Kruges ist Steinzeug – eine hochgebrannte, salzglasierte Keramik. Steinzeug kommt zu Beginn des 14. Jahrhunderts im Rheinland auf, aber erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts wird es Allgemeingut. Gegenüber herkömmlicher, poröser Irdenware hat es entscheidende Vorteile.

 Bei den hohen Brenntemperaturen– zwischen 1200 und 1300 Grad versintert das Material und wird ›dicht‹. Verstärkt wird dieser Effekt noch durch die Glasur. Außerdem ist Steinzeug glashart. Endlich ist ein erschwingliches Material gefunden, in dem man dauerhaft Flüssigkeiten und Nahrungsmittel verwahren kann. Und es ist weitaus hygienischer: das glatte Material lässt sich leicht reinigen.

Mikroben, die sich in den Poren der herkömmlichen Irdenware oder Holzgefäßen einnisteten und begierig auf neue Nahrung stürzten, sobald man verderbliche Lebensmittel einfüllte fanden in dem dichten, oft glasierten Steinzeug keinen Zufluchtsort mehr, kein Entkommen vor der Spülbürste. Steinzeug ist dazu noch glashart – die Gefäße konnte man nun dünnwandiger bauen, das ›Nettogewicht‹ sank, was nicht nur den Fernhandel, sondern auch den täglichen Gang zum Brunnen erleichterte. Man fragt sich wie so oft: warum setzte sich diese Errungenschaft erst in dieser Zeit durch?

Hochgebrannte Keramik hat es vereinzelt immer schon gegeben, und selbst in der frühen Bronzezeit existiert sie schon – als Nebenprodukt der Bronzegusses, wenn tönerne Schmelztiegel bei den hohen Temperaturen des Bronzegusses steinzeugartig sinterten.

Wie die meiste Gebrauchskeramik jener Zeit wurde der Krug von Hand auf der Scheibe gedreht. Für die scharfen Profile hatte man Schablonen. Ein kleines Zackenrädchen, wie wir es vom Raviolimachen kennen, wurde an den drehenden Krug gehalten: schon entstand das Zackenmuster. Und die figürlichen Reliefs? Sie wurden wie Spekulatius aus Tonmodeln gedrückt, und schnell von Hand angarniert. Sie kompliziert anzuschlickern oder vorher aufzurauen – selbst darauf hatte man verzichtet, wie eine Bruchkante heute verrät. Serienproduktion in der frühen Neuzeit. ›Art Multiple‹: nicht nur der Buchdruck verbreitete die Kunde von den reformatorischen Ideen.

Nun aber kam der entscheidende Arbeitsschritt: der Töpfer war in Anspannung, ein Fehler und die Arbeit von Wochen wäre zunichte gemacht. Ein kleines Loch im Ofen wurde geöffnet, feuchtes Salz hineingeworfen und schnell wieder geschlossen. Aus dem Ofen schlugen gelbe Flammen, es rauchte und zischte! Ätzende Gase entwichen aus dem Ofen ins Freie – Salzsäure!  Der Ofen wurde nun mit dem Blasebalg angeblasen. Dabei entstand auf der Scherbenoberfläche die Salzglasur, ein widerstandsfähiges Natronglas.

Wenn der Topf getrocknet war, erschien er hellockerfarben – die geringen Mengen natürlichen Eisenoxidhydrats waren die Ursache dafür. Der Scherben kam in den Ofen, den man langsam hochheizte. Holzkohle und ein Gebläse sorgten für Zieltemperaturen von etwa 1200 Grad und darüber. Temperaturen, wie sie sonst nur der Dorfschmied in seiner Esse erzeugte. Die Kohle verbrannte nicht vollständig. Die reduzierende Ofenatmosphäre ließ das Eisen (III) in Eisen (II/III) - Mischoxid übergehen, dem schwarzen Magnetit, der Dorfschmied kannte dieses schwarze Material auch, als ›Eisenhammerschlag‹. Es ist für die graue Farbe des eigentlichen Scherbenmaterials verantwortlich. Der Töpfer wusste das nicht, und sehen konnte er es auch nicht: das Ofeninnere glühte wie ein Höllenfeuer.

Dort, wo das Tonmaterial mit der eingeblasen Luft in Berührung kam, oxidierte der Magnetit zum rotbraunen Hämatit. Zusammen mit etwas in der Glasur in gelber Farbe gelöstem Eisen (III) entstand der charakteristische hellbraune Farbton. Dabei ist der genaue Farbton zufällig: je nach Eisengehalt variiert er zwischen hellbraun, und dunkelbraun. Und je nachdem wie sorgfältig der Töpfer arbeitete, wurde die Farbe des Gefäßes halbwegs gleichmäßig – oder auch nicht, wie unser Exemplar zeigt.

Dort, wo weniger Luft hinkam, blieb der Scherben grau – da, wo auf dem Lutherkrug der kleine Affe sitzt.

Ist es Zufall, dass das Äffchen, Sinnbild des Bösen, keine Luft bekam? Vermutlich ja. Im Inneren ist der Scherben nicht glasiert und grau – auch hier gelangte weder Salz noch Luft, vermutlich hatte man die Gefäße im Ofen dicht übereinander gestapelt.


Text: Helge Jarecki, Christian-Heinrich Wunderlich, Franziska Thoss
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta

Literatur

Josef Horschick, Steinzeug -15. bis 19. Jahrhundert - von Bürgel bis Muskau (Dresden 1978).

Helge Jarecki, In Szene gesetzt: Der Sündenfall auf Renaissancezeitlicher Keramik, Zeitschrift für Archäologie des Mittealters 32, 2005, 189-195.

Konrad Strauss/ Frieder Aichele, Battenberg Antiquitäten-Katalog: Steinzeug (Augsburg 1992).

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