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Fund des Monats

Januar 2011: Wirkmacht des Wortes

Ein hochmittelalterliches Beschwörungstäfelchen aus Elbeu

Die Aufarbeitung von Altbeständen des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle, brachte abermals ein vergessenes und demnach auch bislang unbekanntes Fundstück zum Vorschein, das sich bei seiner weiteren Untersuchung aus als bemerkenswerte Überraschung erwies. Ein zunächst recht unscheinbar wirkendes, rechteckiges Metallstück gab sich bei genauerem Hinsehen als zusammengefaltetes Bleitäfelchen zu erkennen, in dessen Vorder- und Rückseite Buchstaben und bildhafte Darstellungen eingeritzt sind (Abbildungen 1 und 2). In gefaltetem Zustand maß der Bleikörper maximal 31 Millimeter mal 19 Millimeter, bei einer Stärke von fünf Millimeter. Durch die Faltung entstanden drei Lagen, die absichtlich fest miteinander verdrückt und an den offenen Schmalseiten mit deutlich sichtbaren Kerben zum Teil noch miteinander verzahnt waren. Mit diesen Maßnahmen wollte man das schadlose Öffnen der Tafel verhindern. Aufgeklappt hat das in seiner Grundgestalt rechteckige Täfelchen mit abgerundeten Ecken eine Größe von maximal 90 Millimeter mal 52 Millimeter, bei einer Stärke von 0,5 Millimeter. Die Innenfläche ist längsseitig mit einem neunzeiligen Text beritzt, in dessen Mitte sich ein Kreis mit siegelartigen Zeichen befindet (Abbildung 3). Die ausführliche Publikation des Altfundes erfolgt im Rahmen einer übergreifenden Studie zusammen mit weiteren Vergleichsstücken aus Sachsen-Anhalt. Doch soll hier schon einmal vorab mit einem herausragenden Exemplar auf diese Fundgattung aufmerksam gemacht werden.

Herkunft

Das Täfelchen wurde 1928 bei einer Rettungsgrabung im Vorfeld der Bauarbeiten für den Mittelland-Kanal auf dem Gelände der ehemaligen Hildagsburg bei Elbeu, Gemeinde Wolmirstedt (Landkreis Börde) gefunden. Es stammt aus einem ansonst beigabenlosen Kindergrab in der Nähe der ehemaligen Burgkapelle. Aufgrund seiner Lage am Hals wurde der damals noch gefaltete Bleiklumpen vom Grabungsleiter Hans Dunker intuitiv bereits richtig als Amulett eingeschätzt.
Die Wehranlage selbst wurde 1129 durch Albrecht den Bären infolge eines Familienzwistes niedergebrannt. Das Kirchlein scheint allerdings keine irreparablen Schäden erlitten zu haben und blieb – wenn vielleicht auch mit Unterbrechungen - weiter in Nutzung. Jedenfalls wurde Pilgern, die noch im 13. und 14. Jahrhundert diese Stätte aufsuchten, Ablass gewährt. Erst seit Mitte des 16. Jahrhunderts existierte diese Kapelle nicht mehr.

Die Inschrift

Das Bleitäfelchen ist an einigen Stellen korrodiert, sodass die Lesbarkeit stellenweise stark beeinträchtigt ist. Überdies ist das Schriftbild durch die Faltung verzerrt und zerfurcht, sodass auch dadurch die Lesung bei einzelnen Worten im unteren Abschnitt unsicher ist. Dennoch gelang mit Hilfe von elektronischen Mikroskopen und Streiflichtaufnahmen in weiten Teilen die Entzifferung. In der nun vorgeschlagenen Transkription sind die problematischen Textstellen mit Fragezeichen markiert.

1  + In PiNrCiPIo erAT uerbum & uerbum /

2  + erat apud deu[m] et d[eu]S eArAt uerbum hoc/

3  [era]T In PriniciPio APud deum omnia P[er] ipsum /

4  FACTA snut et sine // kreisförmiges Zeichen // ip[s]um factum /

5  est nichil In nomine //  kreisförmiges Zeichen // PATris eT filii

6  eT sPiriuTus scs amen (?) ...//  kreisförmiges Zeichen // … Satis sit me esse(?) …

7  hAc dum tirono(?)... [Sig]

8  inAculo sancte crucis    ecce cirucem

9  domi[m]i (?)  + [fug]ite P[arte]s

10                               [adversariae]…

1  + Im Anfang war das Wort und das Wort /

2  + war bei Gott und Gott war das Wort /

3   Am Anfang bei Gott, alles ist durch dasselbe /

4  geworden und ohne // kreisförmiges Zeichen // dasselbe auch nicht eines geworden, /

5  das geworden ist. Im Namen //  kreisförmiges Zeichen // des Vaters und des Sohnes

6  des heiligen Geistes Amen  //  kreisförmiges Zeichen // Es sei genug, dass ich bin(?)

7  hier solange dem(?) Rekruten/Knecht(?) ...  [Im]

8  Zeichen des heiligen Kreuzes ... siehe das Kreuz

9  des Herrn  + [Flieht, ihr]

10 [feindlichen Mächte] …

Die Inschrift ist in lateinischer Sprache abgefasst. Im Wesentlichen besteht sie aus den ersten drei Sätzen des Johannes-Evangeliums (Johannes 1, 1 bis 3). Die wahllose Groß- und Kleinschreibung der Buchstaben sowie Schreibfehler wie etwa pinrcipio beziehungsweise prinicipio (statt principio), snut (statt sunt), spiriutus (statt spiritus) und cirucem (statt crucem) lassen vermuten, dass der Graveur zumindest keine professionellen orthographischen Kenntnisse des Lateinischen besaß und er sich beim Abfassen oder Übertragen des Textes schwer tat.
Dies zeigt sich auch im Wort tirono in Zeile 7, das – sofern die Lesart richtig ist – eine nicht existente Deklination des Grundbegriffs tiro (Genitiv tironis, Dativ tironi) darstellt.

Textbedeutung

Die ersten fünf Zeilen geben den Prolog des Johannes-Evangeliums wieder, der da in korrekter Wiedergabe lautet: In principio erat Verbum et Verbum erat apud  Deum et Deus erat Verbum hoc erat in principio apud Deum omnia per ipsum facta sunt et sine ipso factum est nihil quod factum est. (Johannes 1,1 bis 3)
»Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott. Dieses war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe geworden, und ohne das Wort ist auch nicht eines geworden, das geworden ist.«

Dieser Vorspruch nimmt in wenigen Versen den Inhalt des gesamten Verkündungswerkes vorweg: Die zu erwartende Inkarnation des göttlichen Wortes zur Vollendung der Schöpfung. In der Fleischwerdung des Gottessohnes Jesus Christus, der in Menschengestalt allen Erdenbürgern die Heilsbotschaft überbringt, offenbart sich also die personifizierte Gegenwart Gottes in unserer Welt. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die deutsche Übersetzung »Wort«für die lateinische Übersetzung verbum und jene ebenso ihrerseits für die griechische Vorlage λόγος (logos) zu eng ausgelegt ist und damit aus heutiger Sicht eher missverständlich sein mag. λόγος (logos) hat in diesem Zusammenhang eigentlich die umfassendere Bedeutung von »Lehre, Sinn, Vernunft«. Daher sind die drei Anfangssätze des Johannes-Prologs so zu verstehen, dass Gott der Ursprung allen Seins und Werdens ist. Dies wiederum ist eine der zentralen Proklamationen des christlichen Glaubens. Das Bleitäfelchen von Elbeu verweist also auf die Kernaussage des Christentums (Wesen Gottes) wie auch auf den göttlichen Heilsplan (Wirken Christi). Im Konkreten weist der Anfang des Johannesevangeliums zudem auf die wundertätige Kraft des Gotteswortes selbst hin, was diese Passage geradezu für eine Inschrift auf einem Amulett mit intendierter magischer Wirkung prädestiniert.
Zu Beginn der fünften Zeile bricht das Prolog-Zitat unvermittelt ab und mündet in die Dreifaltigkeits-Bekenntnisformel »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes«. Im Folgenden ändert sich der inhaltliche Sinn der Textgravur, die allerdings bedauerlicherweise gerade in diesem Bereich teilweise zur Unkenntlichkeit beeinträchtigt ist. Eindeutig lesbar ist die Weiheformel »Im Zeichen des heiligen Kreuzes«. Dies ist in doppelter Hinsicht zu verstehen: Zum einen wird hier formelhaft die Macht des Kreuzes Christi angerufen und zum anderen gleichzeitig konkret auf das folgende Krückenkreuz und das kreisförmige Christogramm-Symbol in der Mitte des Täfelchens selbst verwiesen. Danach folgt die aus dem Antoniussegen bekannte Zeile »Siehe das Kreuz des Herrn, flieht, ihr feindlichen Mächte«. Die anschließenden Zeilen sind nur noch undeutlich eingeritzt, möglicherweise sollte hier der weitere Text des weitverbreiteten Antoniussegens folgen. Der Legende nach errettete der Heilige eine vom Teufel besessene Frau, indem er ihr die Segensworte als Pergamentamulett um den Hals hing.

Das Kreiszeichen innerhalb der Textzeilen besteht aus einem Doppelkreis mit eingeschriebener Signatur. Das Buchstabenkürzel ist offensichtlich ein verballhorntes und auf den Kopf gestelltes Christusmonogramm. Dabei ist die typische Ligatur XP (Chi-Rho) durch einen zusätzlichen Horizontalstrich ergänzt. Überdies ist der Bogen des P spiegelverkehrt gedoppelt. Und schließlich sind - ebenfalls im Gegensatz zur korrekten Wiedergabe des Christogramms – die Zeichenlinien mit jeweils zwei oder drei Querstrichen versehen. Letztere sind als verstärkende Vervielfältigung des Kreuzsymbols aufzufassen. Bemerkenswert ist hier auch, dass dieses Zeichen gegenüber der Ausrichtung des Textes um 180 Grad gedreht ist, also quasi auf dem Kopf steht. Umgeben ist das Zeichen von einer doppelten Kreislinie, deren äußere als Grundlinie für eine umlaufende, bislang nicht zu entziffernde Schrift dient.

Die beiden Zeichen auf der Außenfläche des Bleitäfelchens von der Hildagsburg stellen, wenn auch verballhornt wiedergegeben, in Großschreibung die Anfangs- und End-Buchstaben Α/Alpha (Abbildung 4) und Ω/Omega (Abbildung 5) des griechischen Alphabets dar. Dem Alpha sind im und neben dem Buchstaben zwei Krückenkreuze beigefügt. Das Omega ist von einem Doppelkreuz geteilt. Diese Buchstabenkombination symbolisiert den Anfang und das Ende/Ziel des Universums und ist ein häufiges Begleitmotiv des oben genannten Christogramms. In der Offenbarung des Johannes sind sowohl Gott selbst (Offbarung Kapitel 1,8 und 21,6) wie auch Jesus Christus (Offenbarung Kapitel. 22,13) als »das Alpha und Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende« bezeichnet.Die gleichrangige Bezeichnung von Vater und Sohn mit diesen symbolhaften Begriffspaaren verdeutlicht deren Wesensidentität. Der Allmächtige und der Heiland sind der eine Schöpfer und Vollender jeglichen Seins. Die Wiedergabe dieser Formel ist wohl vor dem Hintergrund des erwarteten Jüngsten Tages zu verstehen, wenn Jesus als Weltenrichter zur Vollendung des göttlichen Heilsplans wiederkehrt.
Durch die Faltung des Bleitäfelchens bildeten die Flächen mit den apotropäischen Zeichen Alpha und Omega die beiden flächigen Außenseiten, schlossen somit den innen liegenden Text ein und »schirmten« ihn gleichsam gegen schädliche Einflüsse nach außen ab.

Datierung

Eine paläographische Feindatierung der Inschriftentafel ist schwierig, da sich die Schriftzeichen eher an chronologisch unempfindlichere Buchlettern orientieren. Hilfreich ist der Blick auf ein in Form und Funktion vergleichbares Inschriftenblei aus Halberstadt, das uns mit der eingeritzten Jahresangabe 1142 einen konkreten Zeitansatz liefert. Demgegenüber müsste im Anbetracht der Geschichte der Hildagsburg (siehe Herkunft) das dort gefundene Exemplar etwas älter (vor 1129) oder um einiges jünger (13. Jahrhundert) sein. Die verwendete Minuskelschrift mit wenigen Abkürzungen ist vielleicht ein Hinweis auf eine nicht zu späte Datierung. Die Schrift könnte demnach auch schon im frühen 12. Jahrhundert entstanden sein.

Funktion

Die Inschrift ist ihrem Inhalt nach ein christlich-magischer Beschwörungstext und weist dieses Täfelchen als Unheil und Dämonen abwehrendes Amulett aus. Vergleichbare Beschwörungstexte sind in mittelalterlichen Handschriften überliefert, die als Vorlage für die Anfertigung von Textamuletten dienten. 

Nicht zufällig verwendete man Blei als Material für den Schriftträger: In antiker Tradition stehend wurde dem Blei auch nach mittelalterlichem Volksglauben eine magisch-heilende Wirkung zugeschrieben. Blei bietet sich daher als Schriftträger eines Apotropaion (Unheilabwehr) besonders an, und wurde spätestens seit dem 8. Jahrhundert neben anderen Materialien zum Schutz gegen Dämonen verwendet. Kirchengeschichtlich ist bekannt, dass bereits seit frühmittelalterlicher Zeit Bleiamulette mit christlichen Texten und/oder Zeichen versehen und orts- beziehungsweise zeitverschieden auch offiziell verkauft wurden. Dies deckt sich mit anderen Beobachtungen, denen zu Folge man sich seit jener Zeit gefaltete Bleitafeln als Amulett bevorzugt um den Hals hängte. Die entsprechenden Behältnisse aus organischem Material haben sich natürlich nicht erhalten.
Derartigen Inschriftentäfelchen liegt der Kerngedanke von der übernatürlichen Kraft des magischen Wortes zu Grunde. Hierzu passt sehr gut auch die Bekräftigung der schöpferischen Kraft des Wortes durch das oft auftauchende Einleitungszitat des Johannesevangeliums. In diesem Sinne werden bis heute auch in den Weltreligionen Worte und auch Sätze aus den Heiligen Schriften auf kleinen Textträgern notiert und amulettartig in einem kleinen Behältnis am Körper zumindest zeitweilig bei rituellen Handlungen getragen. Exemplarisch seien die westafrikanischen Gris-Gris – das sind Stoff- oder Lederpäcken, aber auch Schmuckkapseln - mit Koransuren genannt wie auch die jüdischen Tefillin – Gebetsriemen an Armen und Stirn mit Kapseln, die Papierröllchen mit Bibel-/Tanachversen enthalten. Die Fixierung der eigentlich mündlichen Beschwörung in einem am Körper getragenen Behältnis sollte durch den physischen Kontakt die Wirkung der Worte auf den Empfänger bestärken und dem Schutz Dauerhaftigkeit verleihen.

Fazit

Die metallenen Schriftstücke sind private Äußerungen, gerichtet an das Überirdische. Sie geben individuelle Ängste und Wünsche preis. Es sind fundamentale Zeugnisse der Volksfrömmigkeit, die eben nicht das Anliegen der proklamierten Kirchenlehre reflektieren, sondern authentische Impressionen vom tatsächlich gelebten Glauben vermitteln. Die meisten mittelalterlichen Beschwörungsformeln richten sich – wie wohl auch im vorliegenden Fall - gegen Krankheit und körperliche Gebrechen. Aufgrund fehlender medizinischer Möglichkeiten ist die Hoffnung auf übernatürlichen Schutz oder Rettung verständlich. Hier betreten wir das weite Feld der »Weißen Magie«, die - im Gegensatz zur Schaden anrichten sollenden »Schwarzen Magie« – auf Schutz und Heilung abzielt.


Text: Arnold Muhl
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta

 

Literatur

H. Dunker, Die Hildagsburg. Der Burgwall von Elbeu, Kreis Wolmirstedt. Abhandlungen und Berichte aus dem Museum für Naturkunde und Vorgeschichte in Magdeburg 8, Heft 5, 191-233.

D. Harmening, Superstitio.  Überlieferungs- und theoriegeschichtliche Untersuchungen zur kirchlich-theologischen Aberglaubensliteratur des Mittelalters (Berlin 1979).

E. Koch, Das Beschwörungstäfelchen des 12. Jahrhunderts von der Liebfrauenkirche in Halberstadt. Zum Inhalt, zur Deutung und zur Funktion. Nordharzer Jahrbuch 14, 1989, 38-44.

M. Schulz, Beschwörungen im Mittelalter. Einführung und Überblick (Heidelberg 2003).

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