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Fund des Monats

Juli 2017: Leih mir Dein Ohr!

Ein weitgereistes Mammutohr macht Station in Halle

Die paläontologische Studiensammlung Prof. Dr. Martin Schmidt des Städtischen Museums Aschersleben beherbergt seit vielen Jahrzehnten einen ungeahnten Schatz – das getrocknete Ohr eines Mammuts (Abbildung 1). Nachdem es lange Zeit relativ unbeachtet in einer Vitrine geschlummert hat, wird ihm nun im Rahmen des Projekts »Erstcheck Provenienzforschung« neue Aufmerksamkeit zuteil. Auf den ersten Blick grau und unscheinbar, hat unser Fund des Monats Juli doch eine spannende Geschichte zu erzählen. Woher kommt das ungewöhnliche Exponat?
Im Stadtmuseum selbst liegen nur wenige Informationen zu dem seltenen Hörorgan vor. Eine kurze Notiz verrät uns, dass es ein »Geschenk sowjetischer Forscher an Prof. Schmidt« gewesen sei, gefunden »An der Beresowka«. Beim Lesen dieser Ortsangabe schlägt das Herz eines jeden Paläontologen höher. Das Beresowka-Mammut ist einer der berühmtesten Mammutkadaver schlechthin, seine Entdeckung zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat unser Wissen über die Anatomie und Lebensweise des Mammuts entscheidend erweitert. Sollte das Ohr wirklich einem so prominenten Tier gehört haben? Und wie gelangte es nach Aschersleben?

 

Ein Schwabe in Sibirien

Ein Mann spielt eine entscheidende Rolle in dieser Geschichte: Eugen Wilhelm Pfizenmayer (Abbildung 2). Der 1869 in Bebenhausen geborene Wissenschaftler arbeitete von 1897 bis 1907 als Kustos und Präparator am Zoologischen Museum in St. Petersburg (Hennig 1953, 60). In dieser Funktion nahm er auch 1901 an der Beresowka-Expedition teil. Pfizenmayer schrieb äußerst eifrig Reisetagebuch, das er viele Jahre später als Grundlage nahm, um der breiten Öffentlichkeit ein möglichst lebhaftes Bild der ganzen Unternehmung zu liefern. Seinem Buch »Mammutleichen und Urwaldmenschen in Nordost-Sibirien« (Pfizenmayer 1926) verdanken wir heute den umfangreichsten und anschaulichsten Bericht über die Beresowka-Expedition. In den Jahren von 1907 bis zum ersten Weltkrieg arbeitete Pfizenmayer als Kustos am Zoologischen Museum in Tiflis, doch im August 1916 verließ ihn sein Glück. Aufgrund seiner deutschen Herkunft verdächtigte man ihn der Spionage, er wurde inhaftiert und kehrte schließlich nach eineinhalb Jahren Gefangenschaft nach Deutschland zurück (Pfizenmayer 1926, 10). Alles, was er zuvor an Unterlagen und persönlichen Exponaten in Sicherheit gebracht hatte, nahm er mit. Nach 21 Jahren in Russland fiel es ihm nun jedoch schwer, in Deutschland wieder Fuß zu fassen. Er wandte sich an die Württembergische Naturaliensammlung (heute: Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart), wo er schließlich für einige Jahre eine Anstellung fand. Zur gleichen Zeit, 1918 bis 1925, war Prof. Dr. Martin Schmidt Direktor der Naturaliensammlung. Als Schmidt in den Ruhestand ging, zog er nach Aschersleben. Seine Privatsammlung bildet heute einen bedeutenden Teil der Sammlung des Städtischen Museums. Schmidt und Pfizenmayer waren nachweislich befreundet, und da Pfizenmayer der einzige Teilnehmer der Beresowka-Expedition war, der den ersten Weltkrieg überlebte, ist es nicht unwahrscheinlich, dass Prof. Schmidt das Ohr direkt von ihm erhielt. Das Landesmuseum für Vorgeschichte untersucht aktuell den schriftlichen Nachlass beider Wissenschaftler, um weitere Hinweise auf die bewegte Geschichte des Mammutohrs zu finden.

 

Die Beresowka-Expedition

Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts waren aus Sibirien immer wieder Funde von Mammutkadavern bekannt geworden. Sofern es jedoch überhaupt einem Wissenschaftler gelang, zu den entlegenen Fundorten vorzudringen, fand man meist nur noch Knochen vor. Grund dafür waren nicht zuletzt abergläubische Ängste der Finder, die sie oft lange davon abhielten, die Entdeckung überhaupt zu melden. Es kursierten Geschichten, Mammute seien so etwas wie »riesige Erdratten«, die unterirdisch lebten und sterben mussten, sobald sie ans Tageslicht kamen. Zudem würde es furchtbares Unglück bringen, sich einem solchen Tier auch nur zu nähern. Manch ein gestandener sibirischer Jäger soll allein vom Anblick eines Mammuts krank geworden sein (Pfizenmayer 1926, 20–21).
Da die Wissenschaft natürlich großes Interesse daran hegte, einmal ein Mammut mit gut erhaltenen Weichteilen untersuchen zu können, setzte die russische Regierung Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts eine hohe Belohnung auf die Meldung solcher Funde aus.
Dieser Anreiz erwies sich als wirksam, denn 1901 traf in St. Petersburg die Nachricht ein, dass ein lamutischer Jäger an der Beresowka, einem Nebenfluss der Kolyma in Nordostsibirien, ein nahezu vollständiges Mammut entdeckt hatte. Der Jäger hatte den linken Stoßzahn aus dem Schädel herausgehackt und versucht ihn einem Kosaken namens Jawlowsky zu verkaufen. Jawlowsky ließ sich von dem Jäger den Kadaver zeigen und erkannte sofort dessen Bedeutung. Er wusste von der ausgesetzten Belohnung, schnitt daher zum Beweis unter anderem einige Weichteile vom Kopf des Mammuts ab (sehr wahrscheinlich auch das besagte Ohr) und meldete den Fund den Behörden (Herz 1902, 12–13).

Kaum hatte sie davon erfahren, sandte die Russische Akademie der Wissenschaften ein Expeditionsteam unter der Leitung von Otto Herz (wie Pfizenmayer Angestellter am Zoologischen Museum St. Petersburg), um den Kadaver zu bergen. Um die enorme Strecke schnellstmöglich zu bewältigen, griff das Team auf diverse Fortbewegungsmittel zurück. Von St. Petersburg aus ging es zunächst mit der Eisenbahn nach Irkutsk, wo damals die Bahnlinie endete. Die Weiterreise erfolgte mit Fuhrwerken, Booten und zu Pferde. Von Irkutsk ging es über Jakutsk und Werchojansk bis nach Sredne-Kolymsk und schließlich, fernab jeder Siedlung, am Flusslauf der Beresowka entlang. Insgesamt brauchte das Expeditionsteam vier Monate, um die Fundstelle (Abbildung 3) zu erreichen.
Die Gruppe teilte sich unterwegs immer wieder auf, sodass Herz bereits mit einigen Helfern ein Lager errichtet hatte, als Pfizenmayer einige Tage später ebenfalls am Fundort eintraf. Der Mammutkadaver war im unwegsamen Gelände nicht nur bereits von Weitem zu sehen (Abbildung 4, siehe Pfeil), sondern auch zu riechen, wie Pfizenmayer eindrücklich beschreibt: »Schon eine geraume Weile bevor der Mammutkadaver in Sicht kam, traf meine Nase der keineswegs liebliche Duft, der von ihm ausging, vergleichbar mit den Dünsten eines schlechtgehaltenen Pferdestalls, stark gemischt mit Aasgeruch.« (Pfizenmayer 1926, 126). Hatte das Team vorher noch geplant, sich einmal ein Stück Mammutbraten zuzubereiten, legte man dieses Vorhaben angesichts der Geruchskulisse dann doch recht schnell ad acta. Lediglich die Expeditionshunde wurden testweise mit etwas gefrorenem Mammutfleisch gefüttert, was ihnen jedoch nicht schadete. Zahlreiche Fraßspuren im Rückenbereich des Mammuts zeugten zudem davon, dass auch ein Rudel Wölfe den langsam auftauenden Kadaver durchaus noch als appetitlich empfunden hatte. Glücklicherweise war das Expeditionsteam dennoch rechtzeitig angekommen, bevor Tauwetter oder hungrige Tiere allzu viel Schaden anrichten konnten.

Der Permafrostboden, in dem das Mammut (Abbildung 5) steckte, hatte zwar für seine Konservierung gesorgt, erschwerte nun allerdings auch die Grabungsarbeiten. Da man das Tier erst auftauen musste, um es überhaupt bergen zu können, errichtete man nach Abnahme des Schädels eine Blockhütte um den Kadaver herum, die man mittels zweier Öfen gleichmäßig beheizen konnte. Die sorgsame Bergung und die gute Erhaltung des Mammutkadavers trugen schließlich dazu bei, dass man sich ein recht genaues Bild des Tieres machen konnte.
Bei dem Mammut handelte es sich um einen ausgewachsenen, gesunden Bullen. Er war etwa 35 bis 40 Jahre alt zum Zeitpunkt seines Todes. Neuere Radiokarbon-Datierungen verraten, dass er vor etwa 35.000 Jahren verstarb. Offenbar war er in ein Loch gefallen oder einen Abhang hinabgestürzt und hatte sich dabei tödliche Verletzungen zugezogen. Dafür sprechen neben seiner merkwürdig sitzenden Haltung unter anderem mehrere Brüche in der Beckenregion, an den Rippen sowie im rechten Vorderbein und eine große Blutansammlung in der Bauchhöhle. Dass der Tod recht schnell eingetreten sein muss, sieht man auch daran, dass sich zwischen den Zähnen des Mammuts noch diverse Pflanzenreste fanden. Ein Glücksfall für die Wissenschaft, denn die geborgenen Pflanzenreste konnten botanisch bestimmt werden und gaben somit erstmals Einblick in das Nahrungsspektrum dieser Tiere. Neben verschiedenen Seggenarten, Quendel und Gelbem Alpenmohn hatte das Beresowka-Mammut auch scharfen Hahnenfuß, Alpenwiesenraute und Alpen-Waldrebe gefressen (Pfizenmayer 1926, 148). Da all diese Pflanzenreste schon Samen trugen, ließ sich sogar feststellen, dass der Mammutbulle im Herbst gestorben war.

Weil das Beresowka-Mammut mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln im Ganzen weder geborgen noch transportiert werden konnte, zerteilte man es in handliche Stücke, die sorgfältig verpackt wurden. Die Einzelteile wurden zunächst bandagiert, mit Heu ummantelt, in Jutesäcke gesteckt, dann noch einmal in frische Felle gewickelt und schließlich wieder eingefroren.

Eine aufwendige Vorgehensweise, die bis Mitte Oktober dauerte. Die fertigen Tiefkühlpakete wurden dann über die gewaltige Strecke von mehr als 6000 Kilometern per Rentierschlitten nach St. Petersburg gebracht (Abbildung 6), da es mittlerweile Winter war und eine Rückkehr zur Bahnlinie langwieriger gewesen wäre.
In St. Petersburg wurde schließlich aus den Einzelteilen des »Mammut-Puzzles« eine Vielzahl verschiedener Präparate angefertigt. Die Knochen stellte man als Skelettrekonstruktion auf. Einen Großteil der geborgenen Hautstücke verwendete man zur Herstellung einer Dermoplastik (Abbildung 7), die das Mammut in der gleichen Lage zeigt, in der es auch gefunden wurde. Beide Exponate sind noch heute im Zoologischen Museum in St. Petersburg zu besichtigen. Kleinere Ausstellungsstücke, wie beispielsweise Haare, Trockenpräparate und in Alkohol eingelegte Gewebeproben, gelangten auf mysteriösen Wegen unter anderem bis ins Smithsonian Institute in die USA und in Prof. Schmidts einstige Privatsammlung nach Aschersleben.

 

Wieder unterwegs

Ende Mai 2017 hatte das Mammutohr eine erneute Reise angetreten und zwar als Leihgabe nach Halle ins Landesmuseum für Vorgeschichte. Nach einem Zwischenstopp in der Restaurierungswerkstatt war es im Zuge der Sonderausstellung »Klimagewalten – Treibende Kraft der Evolution« vom 30. November 2017 bis zum 21. Mai 2018 im Museum zu sehen.


Text: Juliane Weiß
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta

 

Literatur

E. Benz, Der Mammutjäger von Beuren. Museumskustos in Petersburg zu Zarenzeit - Auf Mammutsuche in Ost-Sibirien. Stuttgarter Neues Tagblatt 16, 1936, 4.

W.R. Farrand, Frozen Mammoths and Modern Geology. Science 133/3455, 1961, 729–735.

E. Hennig, Württembergische Forschungsreisende der letzten anderthalb Jahrhunderte. Festschrift zur Feier des 70jährigen Bestehens des Württembergischen Vereins für Handelsgeographie, Museum für Länder- und Völkerkunde, Lindenmuseum, Stuttgart (Stuttgart 1953) 60–61.

O. Herz, Berichte des Leiters der von der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zur Ausgrabung eines Mammutkadavers an die Kolyma-Beresowka ausgesandten Expedition (St. Petersburg 1902).

E.W. Pfizenmayer, Die neueste Mammutexpedition und ihre Ergebnisse (Sanga-jurach-Expedition). Prometheus. Illustrierte Wochenschrift über die Fortschritte in Gewerbe, Industrie und Wissenschaft 21/1061, 1910, 321–327.

E.W. Pfizenmayer, Mammutleichen und Urwaldmenschen in Nordost-Sibirien (Leipzig 1926).

W. Salenski/J. P. Tolmatschow/N. M. Malieva/Th. A. Bjalynizki-Birula, Naučnye rezul'taty ėkspedicii, snarjažennoj Imperatorskoj Akademiej Nauk »dlja raskopki mamonta, najdennago na rěkě Berezovkě v« 1901 godu (St. Petersburg 1903).

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