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Fund des Monats

März 2017: Ein Stopfpilz des 12. Jahrhunderts

Bei den archäologischen Ausgrabungen im Vorfeld einer Neugestaltung des Stendaler Marktplatzes (Abbildung 1) wurde im April 2016 ein hölzernes Werkzeug gefunden, das in seiner Form sogleich an einen Stopfpilz erinnerte.
Der »Pilz« wurde aus einem Stück Buchenholz gedrechselt. Der Hut besitzt einen Durchmesser von 6,5 Zentimeter. Durch den Bodendruck verformte sich der kreisrunde Hut zu seinem heutigen eher ovalen Umriss (Abbildung 2).
Während an der Unterseite die Drehrillen vom Fertigungsvorgang deutlich sichtbar blieben, ist die flach gekrümmte Oberseite geglättet, was auf eine längere Nutzung hinweisen kann.
Nach erfolgter Reinigung und Konservierung lassen sich an der Oberfläche ein Dutzend kleiner Löcher erkennen, die durch Nadelstiche entstanden sind (Abbildung 3). Somit ist die Funktion des Gegenstandes klar als die eines Stopfpilzes anzusprechen, was aber einen mehrfunktionalen Gebrauch bei Textil- oder auch Lederarbeiten, welcher auch das Glätten und Formen von elastischen Materialien betreffen kann, nicht ausschließt.
Der Stopfpilz wurde auf einer freien Fläche des Marktplatzes gefunden, und zwar in einer Schicht, die zwischen circa 1165 und 1178 datiert (Abbildung 4). Zu der Zeit war der Platz noch nicht mit festen Gebäuden bebaut, jedoch von einigen Drainagegräben durchzogen und so in »Blöcke« unterteilt. In Nähe der Fundsituation des Werkzeuges enthielt eine Grabenverfüllung mehrere Holzabfallstücke, gleichfalls von Hainbuche sowie von Buche, Ahorn und Erle, die wohl auch vor Ort zu Gegenständen oder Werkzeugen weiterverarbeitet wurden.

Diese feuchten humosen Fundschichten, reich an organischen Abfällen, bieten oft beste Erhaltungsbedingungen für Holz und Leder. Gleichzeitig erschwert diese kompakte Bodentextur das Erkennen, Freilegen und Bergen von Holzobjekten. So auch bei dem Stopfpilz, der beim Graben mit der Kelle beschädigt wurde und nun in zwei Teilen vorliegt.
Ein Stopfpilz aus der Zeit um 1170 ist für sich, als Fund, eine Beachtung wert, da er durch seine Unmittelbarkeit ein Schlaglicht auf ein ganzes Handwerk wirft. Ein Handwerk, dessen Ausgangsstoffe und Endprodukte, nämlich Fasern und Textilien, wegen der Vergänglichkeit nur unzureichend im archäologischen Fundmaterial überliefert sind. So auch die Werkzeuge. Beinerne Gerätschaften, wie etwa Knochenkämme, bilden da eine Ausnahme. Viele Werkzeuge und mechanische Gerätschaften bestanden aus Holz, wie unser Stopfpilz in Stendal, der sich durch günstige Bodenlagerung erhalten hat.
Noch mehr als die minutiöse Kunde einer Nadelarbeit ist für uns der Aspekt des Fundkontextes von Interesse. Durch die Fundsituation lässt sich belegen, dass zu den Märkten nicht nur verkauft, sondern an Ort und Stelle auch hergestellt, konfektioniert, verändert oder repariert wurde. Für das späte 12. Jahrhundert lässt sich da auf dem Stendaler Markt zum Beispiel die Bearbeitung von Knochen, Zahn, Holz und Leder nachweisen.
Es gibt durchaus ethnographische Parallelen, wo gegenwärtig noch zu Märkten der Verkäufer auch arbeitet und produziert, etwa Korbflechter, oder repariert, wie etwa Schuster, die als Service kleine Reparaturen ausführen.
Vor diesem Hintergrund ist auch der Stopfpilz zu sehen und seine Geschichte als die eines Schneiders weiterzuerzählen. Der oder die Schneider finden wir später im Kaufhaus wieder, und zwar mit einem Ladeninventar aus der Zeit um 1200. Das Kaufhaus wurde 1178 als Ziegelbauwerk errichtet und bestand bis um 1300. In einer Ecke der Kaufhausabteilung befand sich ein Herd, in dem gläserne Gniedelsteine erhitzt wurden. Diese halbkugelförmigen Glasobjekte wurden zur Glättung von feinem Gewebe verwendet; ein Gebrauch ähnlich einem Stopfpilz oder eines Stopfeies ist möglich. Mit diesem Fundzusammenhang könnte man tatsächlich dem Gewerbe der »Gewandschneider« auch archäologisch beikommen.
Diese Gniedelsteine wie auch der Stopfpilz sind meines Erachtens im Umkreis der Konfektionierung von textilem Gewebe, sprich dem Schneidern, anzusiedeln, wenn auch die kulturgeschichtlichen Ansätze eher den Aspekt der Reparatur im Umfeld von Wirkwaren hervorheben.

 

Der Stopfpilz - Eine Kulturgeschichte

Das Dasein der Stopfpilze findet überwiegend im Verborgenen statt. Manche werden erst nach 800 Jahren aus dem Erdboden geborgen, als ob sie eine ganz besondere Art von Trüffeln wären.

Da wäre die Geschichte der Ausgrabungen des auf 1170 datierten Kaufhauses auf dem Marktplatz in Stendal zu erzählen, wobei dieser Fund des Monats anfiel: ein von modernen hölzernen Stopfpilzen kaum zu unterscheidender, freilich am Rand etwas abgebrochener Holzpilz mit Nadelabdruckspuren auf dem Kopf.
Die Kulturgeschichte des Stopfpilzes ist, so weit wir sehen können, ein Desiderat. In den Geschichten der Mode, den Enzyklopädien der Handarbeit und der Sammlung von Abbildungen zu Stickerei und Textilkunst taucht er kaum auf. Etwa in dem wunderschönen Bildband »Frauen, die nie den Faden verlieren« aus dem Jahre 2007, in dem wir strickende und stickende Madonnen finden oder sogar ein Jesuskind Wolle haltend. In der »Kulturgeschichte der Handarbeiten« von Marianne Stradal aus dem Jahre 1990 - weit und breit kein Stopfpilz. Und wenn vielleicht doch notwendig einer vorkommen müsste, dann ist er unter dem Textil verborgen, auf den Abbildungen nicht zu entdecken oder in die Ecke gerollt. In der »Enzyklopädie der weiblichen Handarbeiten« von Thérèse de Dillemont werden Stickkissen und Stickrahmen, auch Sticksteine, aber keine Stopfpilze erwähnt. Immerhin kennen die Bildwörterbücher vom Verlag Enzyklopädie Leipzig aus den 1950er Jahren auf der Tafel »Häusliche Arbeiten II« den Stopfpilz, mit Abbildung gewürdigt, auf Französisch zum Beispiel »champignon à repriser« oder Tschechisch: »látaci hřibek« übersetzt.

Dabei hat der Stopfpilz durchaus die Aufmerksamkeit der volkskundlichen Mykologen verdient. Ist sein Stiel mit dem Pilzkopf zusammen aus einem Stück gedrechselt oder mit einem Gewinde angeschraubt? Seit wann gibt es abnehmbare Stiele? In manchen Stielen gibt es sogar ein Reservoir für Nadeln. Welche unbekannte Stickerin oder welcher Drechsler hat das wann und wo erfunden? Ist der Kopf üblicherweise bemalt, vorzugsweise als Fliegenpilz? Das Zeitalter der Elektrifizierung hat, angeblich als Erfindung Konrad Adenauers, einen beleuchteten Stopfpilz hervorgebracht, der aber wohl wieder aus der Mode gekommen ist, wie das Stopfen selbst angesichts billiger Strümpfe in unseren Regionen selten geworden ist. Seit wann aber gibt es Strümpfe?
Diese Frage führt sicherlich zu weit, aber doch in die richtige Richtung. Es steht zu vermuten, dass mit der Erfindung des Textils auch unmittelbar die Einrichtungen zu seiner Reparatur verbunden waren, der Kesselschmied zog den Kesselflicker nach sich und der Schuster den Flickschuster mit seinen entsprechenden Utensilien, und die Strumpfstricker oder Strumpfwirker eben diejenigen, die die Strümpfe zu stopfen hatten, und da musste bald auch ein fester Gnubbel zur Hand sein, am besten ein Stopfpilz, wenn nicht ein Stopfei. Vielleicht ist manches alte Holzei unter diesem Aspekt neu zu betrachten. Allerdings ist weiterhin zu bedenken, dass diese sekundären, flickenden und ausbessernden Tätigkeiten meist von viel geringerem Ansehen waren als die herstellenden Handwerksarbeiten und die somit geringere Dignität der dazugehörigen Utensilien ist sicherlich ein weiterer Grund, warum der Stopfpilz im Schatten der Kulturgeschichte bleiben musste.
Einzig Editha Fischer hat 2009 in ihrer kleinen Schrift «Ist das Loch im Strumpf noch klein, ist das Stopfen keine Pein. Zur Geschichte der gestrickten Strümpfe bis zum Handstopfen» den Stopfpilz zusammen mit den Strümpfen, mit denen er gewissermaßen in Symbiose lebt, endlich einmal ins Licht gestellt. Dort erfahren wir auf über zwanzig reich bebilderten Seiten etwas von den Patenten und Spezialitäten der Stopfpilzkultur des 20. Jahrhunderts. Inzwischen kamen auch Glas, Bakelit oder Aluminiumguss zum Einsatz, Porzellanköpfe und Werbeaufdrucke sind keine Seltenheit. Ein Patent von 1938 ist ein Stopfpilz mit abnehmbarem Stiel, der dann auch als Handschuhfingerstopfhilfe dienen kann.
Nur die Vorgeschichte dieses Utensils muss noch immer im Dunkel der Vergangenheit bleiben, doch ein Anfang ist gemacht.


Text: Manfred Böhme, Matthias John
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta

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