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Fund des Monats

Oktober 2020: (Gefährlicher) Pinsel aus der Gruft

Im Zuge der Umgestaltung der Liebfrauenkirche in Wernigerode zu einer Konzerthalle fanden dort im Frühjahr 2020 archäologische Untersuchungen statt. Dabei konnten Fundamente und Mauerreste eines Vorgängerbaus dokumentiert werden. Die heutige Liebfrauenkirche war zwischen 1756 und 1762 an der Stelle einer im Jahr 1751 durch einen Brand zerstörten Vorgängerkirche errichtet worden. Im Ostteil der Kirche wurde bei Aushebungen für einen Technikschacht auch eine aus Ziegelsteinen gemauerte Gruft der frühen Neuzeit entdeckt. Wie Aschereste über der Gruft belegen, wurde die Gruft noch in den Boden der ersten, später abgebrannten Kirche eingelassen, nach dem Brand verschwand sie unter einer Schuttschicht und Teile der Decke stürzten ein. Im Inneren der weiß gekalkten und mit schwarzer Malerei verzierten Gruft fanden sich nicht nur die Überreste eines Sarges mit metallenen Griffen und das Skelett der hier beigesetzten Person, sondern oberhalb der Schulter der oder des Bestatteten auch ein Pinsel (Abbildungen 1 bis 4).

Erhalten haben sich die mit schwarzer Klebemasse gebündelten Tierhaar-Borsten, wohingegen der Griff vergangen ist. Aus den verschiedensten Regionen Europas sind Pinsel aus Gräbern des 16. bis 19. Jahrhunderts bekannt. In Sachsen-Anhalt konnten in den letzten Jahren zum Beispiel vom Magdeburger Domplatz und von einem Friedhof bei Wengelsdorf, Burgenlandkreis weitere Exemplare geborgen werden. Solche Pinsel werden in der Regel als Rasierpinsel angesprochen. Allerdings treten sie in den Gräbern aller Altersklassen und sowohl bei Männern als auch bei Frauen auf. Von bildlichen Darstellungen ist jedoch bekannt, dass Pinsel im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit als Waschutensil zur Körperpflege gebräuchlich waren. Demnach erscheint eine Deutung als Waschpinsel weitaus wahrscheinlicher. So sind beispielsweise auch andere Bestandteile des Waschzeugs, wie Schwämme und Waschschüsseln aus neuzeitlichen Gräbern bekannt.
Es ist anzunehmen, dass diese Waschpinsel von den Hinterbliebenen bei ihrem letzten Dienst für den Verstorbenen gebraucht wurden: dem Waschen und Herrichten der sterblichen Hülle. Zu einem ist das Vorkommen dieser  Pinsel wohl als Symbol für diesen letzten Akt der Hingabe zu verstehen, doch steckt dahinter wohl auch die in der frühen Neuzeit weitverbreitete Miasmalehre. Hierbei galten Miasmen, also üble Ausdünstungen, als ursächlich für Krankheiten, Bakterien waren noch nicht bekannt. Der Waschpinsel, der mit der streng riechenden Leiche in Berührung kam galt als potentiell ansteckend und damit gefährlich und musste deshalb beim Verstorbenen im Grab verbleiben.


Text: Donat Wehner, Claudia Schaller
Online-Redaktion: Imke Westhausen, Anja Lochner-Rechta

 

Literatur

M. Schäfer, (All)tägliche Toilette: Vom Kamm bis zum Zahnstocher – Körperpflege im Mittelalter und in der frühen Neuzeit.Concilium medii aevi 12, 2009, 225–250.

C. M. Melisch, Faith and Religious Practice. Sepulchral Culture in Berlin/Cölln (Germany) from the Middle Ages to the Baroque Era. The Medieval Journal 5.1, 2015, 107–128.

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