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Denkmal des Monats

Juli 2019: Ehemaliges Rathaus, An der Stiege 6A, Lutherstadt Wittenberg, Ortsteil Piesteritz

Ab 1915 entstanden in Piesteritz bei Wittenberg die »Mitteldeutschen Reichswerke« als kriegswichtiger Betrieb zur Stickstoffherstellung. 1916 begann in unmittelbarer Nachbarschaft der Bau einer Werkssiedlung für die im Betrieb Beschäftigten, der bis 1919 weitgehend abgeschlossen war. Die städtebauliche und architektonische Planung lag in den Händen des jungen Schweizer Architekten Otto Rudolf Salvisberg, der als Mitarbeiter Paul Schmitthenners in Staaken bei Berlin bereits erste Erfahrungen im Siedlungsbau gesammelt hatte. Ganz ähnlich wie in Staaken entwarf er für Piesteritz eine in sich geschlossene Idealstadt aus Einfamilien-Typenreihenhäusern und markanten Einzelbauten, die keinerlei Bezug auf die Industrieanlage nimmt, sondern das den Städtebau jener Zeit generell prägende Leitbild der Gartenstadt verkörpert: ein kleinstädtischer Organismus mit abwechslungsreich aufeinander folgenden Raumbildern und individuell wirkenden Straßen- und Platzensembles (Abbildung 1).

Gewundene Straßenführung und harmonisch proportionierte Plätze vermitteln ein angenehmes Lebensgefühl, das im gewollten Kontrast zum Industriebetrieb, aber auch zu den blockartig vervielfältigten großstädtischen Massenquartieren der Gründerzeit steht. Obwohl die Siedlung auf den ersten Blick den Eindruck des organisch Gewachsenen zu erwecken versucht, ist der Charakter des künstlich Geschaffenen, des bewusst Geformten, leicht zu erkennen: Die Lage der Einzelbauten (Kaufhaus, Geschäftshäuser, Kirche, Schule, Rathaus, Ledigenwohnheime) folgt nicht praktischen Erfordernissen, sondern ist vom planenden Architekten gezielt zur Akzentuierung einzelner Teile der Siedlung vorgeschrieben. Zu diesen Solitären gehört auch das Rathaus der damals noch selbstständigen Gemeinde Piesteritz, das 1925/26 auf einem platzartigen Annex, der ursprünglich für die evangelische Kirche vorgesehen war, errichtet wurde (Abbildung 2). Das expressionistische Bauwerk fällt sowohl städtebaulich als auch stilistisch aus dem architektonischen Rahmen der Siedlung im Heimatstil. Durch Aufsockelung, Dreigeschossigkeit, Symmetrie und sein hohes, steiles Walmdach mit turmartigem Aufsatz wirkt es monumental.

Seitliche Flügel gehen unmerklich in die Umbauung des Platzes über. Gestalterische Akzente setzen das Portal und der Turmaufbau durch Gegensätze zwischen gezackten und bogigen Detailformen, kraftvolle Farbkontraste, die dreieckig auskragende Freitreppe vor dem trichterartig vertieften Gewändeportal und so weiter. Von künstlerischer Qualität sind das eine Art Landschaftsbild mit Industrieanlagen evozierende Oberlicht mit der Jahreszahl der Erbauung, die Türklinke, die Laterne über dem Eingang, der Uhrturm mit Austritt und prägnanter Wetterfahne (Abbildung 3). Bereits von Anfang an wurden Räume des Verwaltungsgebäudes für Schulzwecke genutzt; seit der Eingemeindung von Piesteritz nach Wittenberg (1950) dient es ausschließlich als Schule (Lucas-Cranach-Gymnasium).


Text: Mario Titze
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta

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