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Fund des Monats

März 2002: Ein jungsteinzeitliches Kindergrab aus Riestedt

Krankheiten sind so alt wie die Menschheit. Die wenigsten lassen sich freilich im archäologischen Befund erkennen. Noch seltener ergeben sich daraus Hinweise, dass Kranke liebevoll umsorgt und gepflegt wurden. Eine derartige Rarität ist neuerdings aus einem reich ausgestatteten Grab der Jungsteinzeit von Riestedt im Landkreis Sangerhausen zu vermelden. Doch der Reihe nach.

Seit knapp zwei Jahren ist Frank Philippczyk als ehrenamtlicher Beauftragter des Landesamtes für Archäologie tätig. In jeder freien Minute beobachtet der passionierte Hobby-Archäologe seither Baustellen und läuft über die Felder auf der Suche nach neuen Fundstellen. Im Herbst letzten Jahres war ihm das Glück besonders hold. Beim Bau der Ortsumgehung Riestedt im Landkreis Sangerhausen fielen ihm zahlreiche dunkle Verfärbungen auf der abgeschobenen Trasse auf. Er alarmierte umgehend die zuständigen Archäologen am Landesamt in Halle, die daraufhin eine eilige Notbergung zusammen mit weiteren ehrenamtlichen Helfern veranlassten, bei der sie im letzten Moment eine kleine, repräsentative Auswahl der Befunde dokumentieren und so für die Nachwelt retten konnten.

Schon sehr früh fiel ein Grab mit einer mit großen Steinen ausgekleideten und abgedeckten Grube ins Auge (Abbildungen 1 und 2). Wegen des schlechten Erhaltungszustandes der Knochen musste der Kopf zunächst im Block geborgen werden.

Kein Problem stellte die zeitliche Einordnung des Grabes dar: Die beigegebenen Keramikgefäße - ein weitmundiger Topf, eine Schale und eine Kugelamphore (Abbildung 3) - datieren die Bestattung zweifelsfrei in die Zeit der sogenannten. ›Kugelamphorenkultur‹ zwischen circa 3300 bis 2700 vor Christus. An weiteren Beigaben fanden sich ein geschliffenes Feuersteinbeil, ein Feuersteinabschlag, eine polierte Eberzahnlamelle und der Unterkiefer eines Schweines im besten Schlachtalter.

Bis hierher war das Riestedter Grab zwar ein sehr schöner, aber noch kein spektakulärer Fund. Doch das sollte sich bald ändern. Bei der routinemäßigen Reinigung der Knochen im Labor des Landesmuseums in Halle zeigte sich, dass die Archäologen in mehrfacher Hinsicht eine kleine Sensation freigelegt hatten.

Der kompakte Erdblock mit dem Schädel wurde auf ein feines Sieb gelegt und Schritt für Schritt mit wenig warmem Wasser getränkt. Die Erde ließ sich auf diese Weise vorsichtig entfernen, und auf dem Sieb blieben die Knochen eines sechs- bis siebenjährigen Kindes zurück (Abbildung 4). Spektakulär wurde der Befund durch die Diagnose einer außergewöhnlichen, schweren Erkrankung, an der das Kind verstorben war. Es hatte unter einem sogenannten Wasserkopf (Hydrocephalus) gelitten. Dabei handelt es sich um eine Störung des Hirnwasserkreislaufes. Eine Druckzunahme in den Kammern des Gehirnes führt zu einer Ausdehnung des knöchernen Schädels bis schließlich ein sogenannter Wasserkopf entsteht. Ein Blick von innen auf die untere Seite des Schädels zeigt die krankhafte Veränderung und Auflösung der Knochensubstanz (Abbildung 5). Normalerweise befindet sich an dieser Stelle der sogenannte Türkensattel - Sella turcica, wie die Mediziner sagen. Dieser Bereich ist bei dem Riestedter Kind durch den gesteigerten Hirndruck vertieft und vergrößert. Neben der krankhaften Vergrößerung des Hirnschädels ist auch die Verbreiterung der Schädelnähte sehr auffällig (Abbildung 6), ebenfalls eine Folge gesteigerten Hirndruckes. Die Porösität der Augenhöhlendächer und kalkhaltige Auflagerungen in der linken Augenhöhle sprechen für eine entzündliche Krankheit, an der das Kind gelitten hatte (Abbildungen 7 bis 8).

Als Ursache für einen überhöhten Hirndruck kommt eine Hirnhautentzündung (Meningitis) in Frage. Der Wasserkopf ist demnach mit großer Wahrscheinlichkeit als Spätkomplikation einer Meningitis zu erklären. Die Diagnose eines Wasserkopfes an sich ist schon Aufsehen erregend genug. Aber die Anthropologin entdeckte bei ihren Untersuchungen noch etwas anderes: eine Reihe durchlochter Tierzähne. Somit war der Befund auch ein Fall für den Archäozoologen, der noch eine weitere Rarität konstatieren konnte. Zunächst stand nur fest, dass es sich offensichtlich um eine Kette aus Tierzähnen handelt, die von dem verstorbenen Kind am Hals getragen worden war. Bei näherer Betrachtung fiel die ungewöhnliche tropfenförmige Gestalt der Zähne auf. Doch von wem stammten sie, die so ganz anders aussahen als all die ›gewöhnlichen‹ Zähne, die der Ausgräber sonst findet? Dazu wurden zunächst einschlägige Bestimmungsbücher gewälzt. Jedoch ohne Erfolg, die Beschreibungen und Abbildungen zeigten keine Ähnlichkeit mit den Funden. Da half nur noch ein Vergleich mit entsprechendem Skelettmaterial bekannter Artzugehörigkeit. Schließlich stellte sich heraus, dass es sich um sogenannte Hirschgrandeln handelt. Die Zähne waren im Wurzelbereich durchlocht und zu einer Kette aufgefädelt worden. 

Doch was sind eigentlich ›Hirschgrandeln‹, und warum sind sie so außergewöhnlich?

Es handelt sich hierbei um die oberen Eckzähne vom Rotwild. Man findet sie bei männlichen wie weiblichen Tieren gleichermaßen, allerdings sind sie bei den Hirschkühen viel kleiner.  Eigentlich sind auch im Unterkiefer Eckzähne vorhanden, nur sind sie dort in die Schneidezahnreihe eingerückt, so dass sie als Eckzähne nicht in Erscheinung treten. Heutzutage werden Hirschgrandeln als Jagdtrophäe sehr geschätzt, die Grandeln männlicher Tiere aufgrund ihrer Größe ganz besonders. Je kräftiger rotbraun sie gefärbt sind, umso begehrter sind sie. Diese braune Verfärbung wird durch Gerbstoffe, die in der Nahrung enthalten sind, hervorgerufen. Dadurch wird der Zahnschmelz mit zunehmendem Alter des Tieres immer dunkler. Jeder Jäger, der solch prächtige Grandeln besitzt, ist stolz darauf. Schließlich braucht er viel Glück, Geduld und jägerisches Geschick, um eine ansehnliche Sammlung besonders prächtiger Hirschgrandeln zusammenzutragen. Man darf nicht vergessen, dass nicht jedes erlegte Stück Rotwild wirklich attraktive Grandeln liefert. Noch mehr Geduld ist notwendig, wenn man daraus gar eine ganze Kette fertigen will.

Das Riestedter Kindergrab enthielt insgesamt 16 Hirschgrandeln, 9 rechte und 7 linke. Da, nach Größe und Form zu urteilen, die rechten mit den linken Grandeln nicht so recht zusammenpassen, scheint jedes Stück sogar von einem anderen Tier zu stammen. Hinzu kommt, dass offenbar keines von einer Hirschkuh stammt. Dies bedeutet, dass man vielleicht 16 Hirsche erlegen musste, um diese Kette dem verstorbenen Kind mit ins Grab legen zu können. Der Wert dieses Schmuckes zeigt sich auch darin, dass man neben dem Riestedter Grab bisher erst zwei Gräber aus der ›Kugelamphoren-Kultur‹ mit solchem Schmuckinventar kennt. Das verstorbene Familienmitglied wurde von seinen Angehörigen offenbar sehr geliebt, wenn ihm - nach heutigen Maßstäben - solch kostbarer Schmuck mit ins Grab gegeben wurde. Wir wissen natürlich nicht, ob und in welcher Weise Hirschgrandeln damals als Jagdtrophäe eine Rolle spielten. Dagegen ist relativ sicher, dass dem Hirsch bereits in urgeschichtlicher Zeit in den religiösen Vorstellungen vieler Völker besondere Bedeutung im Hinblick auf Jagdzauber und Gefahrenabwehr zukam. Wurden dem toten Kind die Grandeln vielleicht deshalb mit auf den Weg ins Jenseits gegeben? Das Grab von Riestedt ist ein beredtes Zeugnis dafür, dass dieses Kind, das schon so früh seiner furchtbaren Krankheit erlag, zu Lebzeiten liebevoll gepflegt worden war und man sich auch über den Tod hinaus um dieses kleine Wesen sorgte.


Text: Hans-Jürgen Döhle, Alfred Reichenberger, Renate Schafberg, Michael Zemann-Wahle
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta

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