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Fund des Monats

Februar 2003: Pflege für die Verletzten und Häuser für die Toten

Grabfunde gehören zu den ständigen Begleitern des Archäologen. Sie stellen neben Siedlungs- und Hortfunden eine der Hauptquellen der archäologischen Forschung dar. In ihnen manifestieren sich die Jenseitsvorstellungen unserer Vorfahren.

Es gehört zu den vergleichsweise seltenen Glücksfällen, wenn eine Grabstätte bei regulären Ausgrabungen in weitgehend ungestörtem Zustand aufgedeckt und dokumentiert werden kann.

Ganz besonders gilt dies für größere Grabanlagen, die für die Niederlegung mehrerer Bestattungen über einen längeren Zeitraum hinweg erbaut wurden. Gerade derartige Anlagen unterliegen in der Regel im Laufe der Jahrtausende insbesondere in exponierten Lagen und landwirtschaftlich genutzten Flächen einem schleichenden, erosionsbedingten Zerstörungsprozess. Zu diesen Anlagen zählen auch die Kollektivgräber der späten Jungsteinzeit (hier: Bernburger Kultur 3400 bis 2800 vor Christus), die sogenannten Totenhütten.

Es kann daher schon als eine archäologische Sensation bezeichnet werden, dass es im Zuge des Neubaus der Bundesstraße B 6 auf der Gemarkung Benzingerode, Landkreis Wernigerode, gelungen ist, eine solche Totenhütte in außergewöhnlich guter Erhaltung untersuchen und dokumentieren zu können (Abbildung 1). Derartige Totenhütten sind in der näheren Umgebung in einiger Zahl zwar bekannt, doch hat sich die Benzingeröder Anlage als einzige in nahezu ungestörter Form bis zur Entdeckung im November 2001 erhalten (Abbildung 2).

Als Hauptursache dafür scheint die Lage im Gelände verantwortlich zu sein:

Die Benzingeröder Totenhütte liegt nämlich als bislang einzige nicht auf einer Anhöhe und damit in einer erosionsbegünstigenden Geländesituation, vielmehr fand sich dieser Befund in der Niederung mit ausreichender Sedimentüberdeckung, so dass die intensive landwirtschaftliche Nutzung zu keinen wesentlichen Beeinträchtigungen des Befundes führte. Die Benzingeröder Totenhütte weist eine Länge von neun Meter bei einer Breite von circa 3,5 Meter auf. Die guten Erhaltungsbedingungen lassen bei einer systematischen Auswertung zahlreiche konstruktive Details des Baus erkennen. So kann man bereits jetzt von einem ehemals mit Steinpackungen und Erde überhügelten, hölzernen Kammerbau ausgehen, der offensichtlich mehrfach umgebaut beziehungsweise repariert wurde. Innerhalb der Gesamtanlage war eine Hälfte offensichtlich abgetrennt; in dieser fand sich die ganz überwiegende Zahl der Bestattungen.

Auf einer Fläche von circa drei mal 3,5 Meter konnten die Reste von mindestens 40 Bestattungen dokumentiert werden (Abbildung 3 und 4). Dabei wird eine detaillierte Auswertung, die derzeit in ersten Schritten durchgeführt wird, erstmals weitreichende Rückschlüsse auf die Bestattungsvorgänge und -sitten der Bernburger Kultur erlauben. Bereits während der Ausgrabung konnte beobachtet werden, dass die Skelette ganz überwiegend in anatomischem Verband in ungestörter Lage im Grab angetroffen wurden. Aber auch die gleichzeitige Bestattung mehrerer Individuen, die sekundäre Verlagerung einzelner Skelettpartien im Zuge von späteren Nachbestattungen und wohl auch die nachträgliche Bestattung von Individuen, die ursprünglich an anderer Stelle niedergelegt wurden, scheinen zum breiten Spektrum der Bestattungsbräuche zu gehören (Abbildung 5). Neben den etwa 220 archäologischen Funden, die aus dem Grabinneren geborgen wurden, stehen 1815 Skelettteile beziehungsweise Einzelknochen für die Auswertung zur Verfügung.

In der systematischen anthropologischen Bearbeitung der Skelettreste liegt ganz sicher ein Großteil der wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten, die aus diesem Befund gewonnen werden können (Abbildungen 6 und 7). Dabei gilt es zunächst zu klären, inwieweit sich über die gängigen anthropologischen Standardmethoden (vor allem Alters- und Geschlechtsdiagnosen, Paläodemographie, Metrik, Epigenetik, Pathologie) hinaus moderne Verfahren (DNA-Analysen, Isotopenanalysen) anwenden lassen. Welch aufschlussreiche Informationen sich in diesem Befund verbergen und wie nahe man gelegentlich an den einzelnen der vor circa 5000 Jahren verstorbenen Menschen, an sein individuelles Schicksal herankommen kann, soll hier exemplarisch gezeigt werden.

Bereits während der Ausgrabung fiel unter den Skelettresten ein rechter, aufgrund der Robustizität wohl zu einem männlichen Individuum gehöriger Oberschenkelknochen auf, der starke pathologische Veränderungen aufwies (Abbildung 8). Dabei ließ das äußere Erscheinungsbild bereits auf eine kapitale Fraktur mit umfangreichen Verheilungsreaktionen schließen (Abbildung 9).

Für eine genauere Diagnose waren weiterreichende Untersuchungen am Knochen selbst erforderlich – ein Besuch im Krankenhaus erwies sich dabei als äußerst hilfreich. Mit freundlicher Unterstützung von Herrn Dr. Thomas Heinrichs, Diagnostische Radiologie der Universitätsklinik Magdeburg, konnten computertomographische und digitale Röntgenaufnahmen angefertigt werden (Abbildung 10). Besonders deutlich wird der medizinische Befund im Röntgenbild, das unseren Verdacht auch noch nach 5000 Jahren bestätigen konnte:

Der Oberschenkel weist im oberen Drittel des Schaftes eine verheilte Fraktur auf. Betrachtet man die Bruchstrukturen und die zwischen den gebrochenen Schaftabschnitten erfolgte längsaxiale Verdrehung genauer, so lässt sich rekonstruieren, dass der Bruch durch eine übermäßige Drehbewegung des Beines entstanden ist – ähnlich den Brüchen, wie sie bei Skifahrern häufiger auftreten. Festzuhalten ist auch, dass durch die starke Oberschenkelmuskulatur die Schaftstücke beziehungsweise einzelne Knochensplitter zusammen gezogen wurden. Im Zuge des Heilungsprozesses sind dann die umfangreichen, beinahe wie Wucherungen aussehenden Knochenneubildungen entstanden, die die Splitter und Bruchstücke in diesem Zustand fixiert haben. Hervorzuheben ist, dass es seitens der Gemeinschaft offensichtlich keinen, zumindest keinen erfolgreichen Versuch gegeben hat, die Folgen dieser Fraktur durch Strecken und anschließendes Schienen zu mindern. Dies überrascht umso mehr, als dass die Zeitgenossen dieser Menschen bereits in der Lage waren, Operationen am Schädel, sogenannte Trepanationen (Öffnungen der Schädeldecke), erfolgreich durchzuführen.

Für den Betroffenen selbst und seine Umgebung hatte diese Verletzung erhebliche Folgen: Zunächst einmal war diese Verletzung in der akuten Phase sicherlich sehr schmerzhaft. Zusätzlich musste der Patient über einen Zeitraum von mindestens 4 bis 6 Wochen hinweg überwiegend liegen und war so außer Gefecht gesetzt. Für die Gemeinschaft, die ihn in dieser Zeit versorgen musste, war er also eine zusätzliche Belastung. Und schließlich dürfte der Mann für den Rest seines Lebens gezeichnet gewesen sein: Sein rechtes Bein war dauerhaft um circa zehn Zentimeter verkürzt, was ohne Zweifel zu erheblichen Beeinträchtigungen im Bewegungsablauf und damit wohl auch im täglichen Leben des Mannes führte.


Text: Veit Dresely
'Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta

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