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Fund des Monats

Juli 2010: Aus Magdeburgs großer Zeit

Ein spätromanisches Kapitell von St. Sebastian

Vom mittelalterlichen Magdeburg haben die großen Kriege der Neuzeit nur wenig übrig gelassen. Dabei war die Stadt an der Elbe unter den Städten im Osten Deutschlands im hohen und späten Mittelalter einst die größte und bedeutendste. Das Magdeburg Ottos des Großen und Erzbischof Wichmanns aber ist im Brand des Jahres 1631 nahezu vollständig untergegangen. Was damals verschont blieb, musste entweder dem Baufieber der Gründerzeit weichen oder fiel dem Flächenbombardement des 2. Weltkriegs zum Opfer. Unter solchen Voraussetzungen grenzt es fast schon an ein Wunder, dass doch noch verhältnismäßig viele der mittelalterlichen Kirchen die Jahrhunderte überstanden haben. Aber auch hier schlug nicht nur die Zeit, sondern auch der politische Wille Wunden - noch in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden gleich drei durch den Krieg beschädigte Kirchen, St. Ulrich, St. Nikolaus und Heiliggeistkirche, mittels Abrissbirne und Sprengstoff dem Erdboden gleichgemacht.

Zu den ältesten Kirchen der Elbmetropole gehört die Sebastianskirche in der Altstadt, unweit des südlichen Stadtausgangs am Sudenburger Tor und in Sichtweite des Magdeburger Domes gelegen. St. Sebastian wurde unter Erzbischof Gero (1012 bis 1023) als Stift errichtet, nach dem Domstift galt es als das älteste und vornehmste der Stadt. Die Gründung fällt in eine Zeit, in der viele Bischöfe es als ihre Pflicht ansahen, das Ansehen der Kirche und den Ruhm Gottes durch neue, größere und schönere Kirchbauten zu mehren. Gerade im 11. Jahrhundert verwandelten sich daher viel Bischofsstädte in ausgedehnte Bauplätze. Wo Gero selbst bestattet wurde, ist nicht mit Sicherheit geklärt; bei Grabungen im Chor von St. Sebastian während der Restaurierung 1876 bis 1878 hat man seinen Sarkophag jedenfalls nicht entdecken können. Anlässlich des Chorneubaus im 15. Jahrhundert war zwar eine Platte mit Inschrift in Auftrag gegeben worden, die an den Stifterbischof erinnerte. Da sie aber verloren ist, lässt sich nicht mehr sagen, ob sie als Grabplatte oder als Epitaph diente. Der Eintrag in das Nekrolog des Stifts belegt nur, dass Geros Todestags alljährlich gedacht wurde. Auf diese Memoria hatte der Stifter ein Anrecht. Die Gesta archiepiscoporum berichten andererseits, dass Gero vor dem Kreuzaltar im Magdeburger Dom bestattet war und dass Erzbischof Rochar (1119 bis 1124) seine Gebeine hat umbetten lassen.
Wie so oft bei mittelalterlichen Kirchen vermitteln die bestehenden Bauten heute nur noch wenig von ihrem ursprünglichen, mittelalterlichen Aussehen. Kaum mehr als der architektonische Rahmen hat sich erhalten. Völlig unbekannt ist der Gründungsbau, von dem nichts mehr zu sehen ist. Der heutige Chor verdankt seine Gestalt einer spätmittelalterlichen Erweiterung. Vor allem aber wurde die unmittelbare Umgebung der Kirche massiv umgestaltet. Verloren ging der von einer Mauer umschlossene, im Osten bis an den Breiten Weg reichende Friedhof mitsamt Kapelle, und dort, wo sich einst Kreuzgang und Klausurgebäude befanden, steht heute die 1893 bis 95 errichtete Hauptpost.

 

Die Wahrscheinlichkeit, bei den zwischen März 2008 und Dezember 2009 durchgeführten Grabungen im Umfeld von St. Sebastian noch bauliche Überreste des Sebastianstifts zu finden, war daher nicht hoch und entsprechend gering waren die Erwartungen. Es war also durchaus überraschend, als bei der Erneuerung des Straßenkörpers in der Max-Josef-Metzgerstraße vor dem Westportal der Kirche und knapp unter der Asphaltdecke Mauern zum Vorschein kamen (Abbildung 1). Wie alte Stadtpläne zeigen, müssen die Gebäude noch im frühen 19. Jahrhundert bestanden haben. Datierende Funde konnten aufgrund moderner Störungen nicht gemacht werden, doch lassen die vorhandenen Schriftquellen auf eine Zugehörigkeit zur Stiftsimmunität schließen; demnach könnten die freigelegten Grundmauern teilweise zur spätmittelalterlichen Stiftskämmerei gehört haben.
Bei den baubegleitenden Untersuchungen am Breiten Weg war mit dergleichen nicht zu rechnen. Zwar verliefen die zu untersuchenden Leitungsgräben auf Höhe der Sebastianskirche und der Alten Post, doch gehörten diese Abschnitte seit jeher zum Straßenbereich. Dennoch konnten auch hier - nicht ganz überraschend und durchaus erhofft - in 1,3 bis 1,4 Meter Tiefe Reste des mittelalterlichen Straßenpflasters aufgedeckt werden (Abbildung 2). Größere, intakte Abschnitte waren stellenweise auf Längen von 10 bis 20 Meter erhalten, trotz moderner Unterbrechungen konnte der mittelalterliche Breite Weg auf insgesamt knapp 100 Metern nachgewiesen werden. Dass das Pflaster – angesichts der Qualität muss man eher von einer Schotterung sprechen – noch so gut erhalten war, ist maßgeblich darauf zurückzuführen, dass die frühere Oberfläche deutlich tiefer lag als heute. Das jetzige Straßenniveau entstand demgegenüber erst als Folge späterer Aufschüttungen.

Eigentlich war es nur eine Routinekontrolle, die zu einem völlig unerwarteten Fund führte. An einem Grabenabschnitt, der beim Bau einer älteren Leitung schon einmal geöffnet worden war, musste für die geplante Neuverlegung erneut gebaggert werden; intakte Befunde waren hier nach Lage der Dinge nicht zu erwarten. Bei der Kontrolle der Arbeiten fiel ein größerer Stein auf; der Baggerfahrer hatte ihn seiner Größe wegen zunächst nur beiseitegeschoben und glücklicherweise noch nicht auf den bereitstehenden Lkw geladen. Schon von der Grabenkante aus aber war zu erkennen, dass dieser Stein Bearbeitungsspuren aufwies. Bei einer ersten Reinigung war dann die Überraschung groß: Es handelte sich um ein mittelalterliches, mit reicher Blattornamentik verziertes Kelchblockkapitell, also den oberen Abschluss einer Säule (Abbildung 3). Stilistisch lässt es sich in das ausgehende 12. Jahrhundert datieren. Der Steinmetz, der das Stück schuf, orientierte sich dabei am klassischen korinthischen Kapitell, das während des frühen und hohen Mittelalters ständige Referenzgröße blieb.

Aber von woher stammt es und wann war es in die Erde gekommen?

Auf den ersten Blick sind die Begleitumstände der Auffindung wenig ermutigend; es handelt sich um einen klassischen Einzelfund. Bei näherem Hinsehen lassen sich aber doch einige Überlegungen dazu anstellen, wie es an seinen jetzigen Platz gekommen ist. Anders als heute üblich, hatte man nämlich bei der Verlegung der alten Gasleitung den Aushub nicht abgefahren, sondern wieder zur Verfüllung benutzt. Damit ist ein erster, wichtiger Hinweis darauf gewonnen, dass das Kapitell mit großer Wahrscheinlichkeit aus der Umgebung des Fundortes stammt.

Der Fundort lag nun zweifelsfrei im mittelalterlichen Straßenbereich. Da man im Mittelalter zwar mancherlei Abfälle auf den Straßen entsorgte, aber wohl doch kein 35 Kilogramm schweres Kapitell, muss es in den Boden gekommen sein, als man das Geländeniveau insgesamt durch Aufschüttungen erhöhte. Die jüngsten Nutzungsspuren aus der mittelalterlichen Straßenschotterung weisen in das ausgehende 13. Jahrhundert, vielleicht sogar erst in das 14. Jahrhundert. Folglich kann das Kapitell frühestens um etwa 1300 in den Boden gelangt sein. Wie sich hier, aber auch an anderen Stellen zeigt, kam es vor allem in der frühen Neuzeit zu massiven Geländeerhöhungen. Dies geschah vermutlich in Folge der Zerstörung Magdeburgs 1631 im Dreißigjährigen Krieg; noch das ganze 17. Jahrhundert standen danach viele Gebäude als Ruinen da. Vermutlich machte man sich mit der Entsorgung der Trümmer nicht allzu viele Umstände, sondern kippte den Schutt in der nächsten Umgebung ab und planierte ihn dort ein. Auch das Kapitell dürfte also aus einem der Gebäude stammen, die damals zerstört und nicht wieder aufgebaut wurden.
Nach Größe und Proportion unseres Kapitells kommt dafür am ehesten der Klausurbereich von St. Sebastian in Betracht, der sich einst auf der Nordseite der Kirche befand. Von der Zerstörung im Dreißigjährigen Krieg wurde der Kreuzgang stark in Mitleidenschaft gezogen; danach kümmerte sich niemand um die Bauten, die mehr und mehr verfielen und bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts abgetragen wurden. Da von der Baugeschichte des Kreuzganges nichts bekannt ist, müssen wir uns an den noch vorhandenen Kirchenbau halten. Der 1169 geweihte Neubau wurde nach zwei Bränden, 1188 und 1207, repariert. Von allen drei Phasen des 12. und frühen 13. Jahrhunderts sind Teile erhalten. Am Nordturm wurde 1220/25 noch gebaut.
Spuren an der Außenwand des nördlichen Seitenschiffs der Kirche belegen, dass der hier angrenzende Flügel des Kreuzgangs zwei Geschosse hatte, denn die Fenster und die Strebepfeiler, die gegen 1500 hinzugefügt wurden, nehmen auf einen solchen Anbau Rücksicht. Vermutlich war dieser zweigeschossige Flügel schon nach dem Brand von 1188 entstanden. Der Bau weiterer Kreuzgangflügel und dann auch von Klausurbauten mag sich bis ins 13. Jahrhundert hingezogen haben.
Mit großer Wahrscheinlichkeit stammt das am Breiten Weg aufgefundene Kapitell von einer Arkade dieses Kreuzgangs oder einer Fensteröffnung in einem Gebäude, das gegen 1200 errichtet worden war.


Text: Christian Forster, Christian Gildhoff
Online-Redaktion: Tomoko Emmerling, Anja Lochner-Rechta

 

Literatur

C. Forster/C. Gildhoff, Zum Fund eines spätromanischen Kapitells aus dem ehemaligen Stiftsbereich der Magdeburger Sebastianskirche. Jahresschr. Mitteldt. Vorgesch. (in Vorbereitung)

G. Wentz/B. Schwineköper, Das Erzbistum Magdeburg 1,Teil 2: Die Kollegiatstifter St. Sebastian, St. Nicolai, St. Peter und Paul und St. Gangolf in Magdeburg. Germania Sacra. Die Bistümer der Kirchenprovinz Magdeburg (Berlin/New York 1972).

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