Zur Navigation (Enter) Zum Inhalt (Enter) Zum Footer (Enter)

Fund des Monats

April 2011: Der Gürtel des Alchimisten

Eine seltene thüringerzeitliche Scheibenfibel mit Selenrubinglas-Einlage aus Elbeu

Nur selten erlangen archäologische Funde das Prädikat der Einzigartigkeit, weil sie entweder in ihrer Art bislang unbekannt waren oder zu vollkommen neuen Sichtweisen auf ihre jeweiligen Herkunftsepochen verhelfen können. Der Fund der hier gezeigten Scheibenfibel ließ den Ausgräber natürlich frohlocken, denn schon vor der Reinigung des Objektes schimmerten deutlich sichtbare Reste geschliffenen, roten »Steins« oder Emails durch die anhaftenden Erdkrusten (Abbildung 1).
Die Oberfläche des roten »Steins« war ausgesprochen brüchig und veranlasste den Ausgräber, die weitere Reinigung und Untersuchung der »Scheibenfibel« den Mitarbeitern der Restaurierungswerkstatt zu überlassen. Neben Freilegung und Präparation wurde das Restaurierungslabor auch mit der technologischen und naturwissenschaftlichen Untersuchung des Stücks beauftragt. So stellt sich bei derartigen Funden oft die Frage, ob es sich bei dem roten Stein tatsächlich um den wertvollen »Almandin« oder »Karfunkelstein« handelt, eine sehr begehrte Edelsteinsorte, oder ob es sich »nur« um einen roten Glasfluss handelt.
 

Restauratorische Behandlung

Der  zunächst verhältnismäßig unförmige »Rostklumpen« wurde in der Restaurierungswerkstatt nach vorheriger Dokumentation mit mechanischen Mitteln (rotierende Schleifkörper, Feinsandstrahlgebläse) abrasiv behandelt. Locker aufsitzende Korrosionsschichten, die einen erheblichen Teil des umliegenden Erdreiches mit eingeschlossen hatten, wurden dabei entfernt. Dabei wurde darauf geachtet, dass die rote »Almandin«-Einlage nicht beschädigt wurde. Im Zuge der Freilegungsarbeiten erwies sich die rote »Edelstein«- oder Emailschicht als weitaus größer als zuvor angenommen (Abbildung 2).
Mit einem Durchmesser von nahezu 4,5 Zentimeter dürfte die »Almandin«-Scheibe zu den größten aus einem Stück gefertigten Edelsteinscheiben überhaupt gehören: falls es sich denn wirklich um Almandin/Granat handeln sollte. Für eine Emaileinlage (Glas, das in eine vorgefertigte Zelle eingeschmolzen wird) ist die Scheibe aber auch um ein Vielfaches zu groß. Scheibenfibeln aus Email dieser Größe sind zwar durchaus bekannt, zeichnen sich jedoch immer dadurch aus, dass sie aus mehreren einzelnen Zellen bestehen, die durch Stege voneinander getrennt sind (Zellenschmelz, Stegemail, émail cloisonné).Die Metallstege dienen dazu, das Email beim Abkühlen vor Rissbildung zu schützen. Stege sind in unserer Scheibenfibel nicht zu erkennen.  Stilistisch passt das Objekt auf jeden Fall in die Thüringerzeit (6. Jahrhundert).

Technologische Untersuchung der roten Scheibe

An zentraler Stelle stand die Frage nach der chemischen Zusammensetzung  des roten Materials. Um das zu klären, wurde ein kleiner Splitter der Masse mittels Röntgenfluoreszenzanalyse auf ihre Elementarzusammensetzung untersucht (Abbildung 3).
Die Untersuchung führte Mario Schulz am Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt in Magdeburg durch. Das Ergebnis zeigt zunächst, dass es sich nicht um Almandin oder andere Edelsteine handelt. Granate folgen der allgemeinen Zusammensetzung XII3YIII2(SiO4)3. Handelt es sich bei X um Eisen und Y um Aluminium, so liegt Almandin vor. Die mit Hilfe der Röntgenfluoreszenzanlayse ermittelte Zusammensetzung  mag dazu leider nicht passen. Vielmehr scheint hier eine glasartige Masse vor zu liegen. Betrachtet man zunächst die Hauptbestandteile der Glasmatrix (Silicium, Kalium, Zink, Bor), so fällt zunächst nichts Besonderes auf. Lediglich Calcium fehlt, das in gewöhnlichen Gläsern zur chemischen Stabilisierung eigentlich unabdingbar ist. Stattdessen liegt jedoch ein hoher Anteil an Zink vor. Zinkionen können aber an Stelle von Calcium Gläser stabilisieren (ähnlich wie Blei in Bleiglas). Der Gehalt an Bor wundert nicht – Borax als Flussmittel ist ein klassischer Rezepturbestandteil in Email. Sogar heute noch werden Bor-Zink-Silikatgläser verwendet – vorzugsweise dann, wenn besondere Anforderungen an Qualität und Beständigkeit des Glases gestellt werden, oder man das Splittern oder Platzen des Glasflusses bei plötzlichen Temperatursprüngen vermeiden will. Das ist ja besondere bei Email sinnvoll. Möglicherweise ist die spezielle Zusammensetzung des »Borozinksilikat-Emails« auch der Grund, weswegen der Email- oder Glasflusskünstler bei unserem Schmuckstück auf die Verwendung von Metallstegen verzichten konnte.

Die eigentliche Überraschung der roten Glasmasse sind die färbenden Bestandeile. Die Herstellung roten Glases war im Mittelalter ausgesprochen schwierig und eine hohe Kunst – im frühen Mittelalter, wie zur Entstehungszeit unserer Fibel im 6. Jahrhundert, wohl nur von wenigen Werkstätten beherrscht. Das tief leuchtende Rot spätantiker Gläser oder auch mittelalterlicher Kirchenfenster ist in den meisten Fällen auf Kupfer(I) -oxide zurück zu führen. Die Verarbeitung ist dabei ausgesprochen schwierig, weil bei einer oxidierenden Prozessführung das Kupfer(I) zu Kupfer(II) oxidiert wird, was dann statt der erwünschten kirschroten Farbe zu blaugrünen Farbtönen führt. Erst ab dem 16. Jahrhundert kommt eine zweite Methode auf, Glas rot zu färben, der sogenannte Goldpurpur. Hierzu setzt man nach einem komplizierten Verfahren der Glasmasse Spuren von Goldverbindungen zu, die dann eine kolloidale Lösung von Gold in der Glasmatrix ergeben, womit man ebenfalls intensiv purpurrote Färbungen erhält. Dabei muss man auch noch mehrstufig arbeiten, das Glas nach dem Erstarren wieder neu erhitzen, um die Farbe zu entwickeln – alles in allem Operationen, die nur wenige Spezialisten beherrschten. Aber weder Gold noch Kupfer sind in unserer roten Glasprobe aus Elbeu zu finden. Stattdessen aber: Selen.
Setzt man Glasmassen Spuren (im Promillebereich) von Selen zu und sorgt durch komplizierte Temperverfahren dafür, dass es – ähnlich wie Gold im Rubinglas – fein kolloidal verteilt, so entsteht das leuchtend rote Selenrubinglas. Derartige Selenrubingläser sind in unserer heutigen Zeit bekannt und üblich, etwa in besonders teuren Weihnachtsbaumkugeln, roten Gläsern von Lichtzeichenanlagen oder auch gläsernen Rückstrahlern von Fahrzeugen.
Dass bereits im frühen Mittelalter Gläser mit Selen zur Farberzeugung dotiert wurden, ist eine neue und sensationelle Erkenntnis, die sich aus der Untersuchung unseres Fundes ergibt.

In einer Patentschrift aus dem Jahre 2008 zur Herstellung roter Gläser heißt es: »Im Mittelalter wurde zum Beispiel Glas zur Herstellung von Kirchenfenstern eingefärbt. Dabei stellten die Rezepturen zum Einfärben ein wichtiges Betriebsgeheimnis dar, welches von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Aus diesem Grund sind viele dieser Färbetechniken verlorengegangen und heute nicht mehr bekannt«.
Ahnte der Patentanmelder Schott etwa, dass es sich bei seinen »Hightech-Gläsern« möglicherweise gar nicht um Neuheiten handelt, sondern um reaktivierte, mittelalterliche Geheimrezepturen?
Wir kennen in der Tat kaum Glasrezepturen aus dem Mittelalter, aus dem frühen Mittelalter ohnehin nicht, und selbst das berühmte Lehrbuch des Kunsthandwerkers Theophilus Presbyter (Anfang 13. Jahrhundert) schweigt sich zu Glasrezepten vollkommen aus. Erst in der neuzeitlichen »Ars Vitraria« von Johannes Kunckel aus dem 18. Jh. finden wir detaillierte Glasmacherrezepte, unter anderem auch detaillierte Angaben zum Goldrubinglas (Abbildung 4). Kunckel, der mit der Veröffentlichung seiner Glasmacherkunst die Geheimniskrämerei seiner Zunft beendete, war ebenso Alchemist wie seine Vorfahren, die mittelalterlichen Glasmacher. Selen scheint den Alchemisten als Stoff durchaus bekannt gewesen zu sein: Darauf deutet sein Name hin. Den meisten und den wichtigsten alchemistischen Grundstoffen waren Gestirne zugewiesen, die gleichzeitig auch antike Götter personifizieren. So stand die Sonne als Zeichen für Gold, Mars für Eisen, und Saturn für Blei. Über Quecksilber herrschte Merkur, die Venus über das Kupfer. Die Elementbezeichnung »Selen« leitet sich aus dem griechischen σελήνη, Mond, ab. Aber auch das Element Silber war dem Mond zugeordnet. Während Silber jedoch wegen seines hellen Glanzes für die lichtbeschienene Seite des Mondes stand, verkörperte das dunkelgraue Halbmetall Selen die lichtabgewandte Seite des Himmelskörpers.
Die Untersuchungsergebnisse bestätigen somit zweierlei: zunächst den durchaus hoch entwickelten Stand der frühmittelalterlichen Glastechnologie, die erst in der späten Neuzeit wieder erreicht wurde. Und sie bestätigt die Annahme, dass das Glasmacherwesen, zumindest was die Anfertigung von Spezial- und Buntgläsern betrifft, tatsächlich über Jahrhunderte erfolgreich geheim gehalten werden konnte.

Verarbeitung

Die Oberfläche der heute in Folge Bodendrucks gesplitterten Scheibe war aufwändig poliert. Unter dem Mikroskop ist mit etwas Übung zu erkennen, dass die Unterseite offensichtlich eine Art »Fassettenschliff« aufwies und zudem mit einer silbrigen »Reflexschicht« versehen war. Derartige Reflektorschichten sind gerade von Fibeln der Thüringerzeit (7. Jahrhundert) bekannt und werden in der Fachwelt »Waffelmusterblech« genannt (Abbildung 5 und 6). Sie sollen – ähnlich wie bei einem Fahrrad-oder Autorückstrahler- die Reflexionseigenschaften des roten Glases verbessern und der Farbe mehr »Feuer« verleihen.

Yin und Yang und die Conjunctio im großen Werk der Alchemie

Eiserne Scheibenfibeln sind eine ausgesprochene Seltenheit. Die widersprüchliche Kombination des relativ hochwertigen Materials Selenrubinglas und des  - zumindest seit dem frühen Mittelalter – durchaus geringer wertigen Materials Schmiedeeisen fällt auf. Gehen wir davon aus, dass auch die besondere Zusammensetzung des Glases mit seiner »geheimnisvollen« Rezeptur auf einen alchemistischen, mythischen Hintergrund verweisen könnte, so soll hier einmal der zugegeben gewagte Versuch unternommen werden, auch das Material Eisen in alchemistischer Weise in seinem Kontext zum Selen zu deuten. Eisen ist dem Kriegsgott und dem Gestirn Mars zugeordnet, Selen als die »Möndin« steht für das Weibliche. Diese gegensätzlichen Kräfte ergänzen sich, widerstreiten und bilden gleichzeitig eine Einheit – ganz ähnlich wie das »Yin und Yang« in der chinesischen Philosophie. Die Verbindung des Weiblichen und Männlichen ist die »Conjunctio«, die Vermählung, einer der wichtigsten Stufen des »Großen Werkes« (opus magnum) der Alchemie, einer der Schritte auf dem mehrstufigen Weg der Umwandlung wertloser Materialien in Gold.

Gürtelbesatz eines Alchemisten ?

Auf der Rückseite trägt das Objekt eine riegelartige Zunge, die zwischen der Scheibe einen breiten Schlitz bildet, durch den man vermutlich einen Ledergürtel gezogen hat (Abbildung 7). Mit zwei Nieten ist dieser Riegel mit den beiden oval auslaufenden Ausbuchtungen der Glassteinfassung verbunden. Es scheint sich damit eigentlich nicht um eine Fibel (Gewandspange), sondern eher um eine Art Gürtelbesatz zu handeln. Sowohl die geheimnisvolle Zusammensetzung als auch die bedeutungsschwere Materialkombination lassen darauf schließen, dass es sich bei dem Besitzer um einen Menschen handelte, der – mehrfach codiert – das geheime Wissen seiner Zeit gewissermaßen als einen Schatz mit sich herumtrug. Erst heute, circa 1300 Jahre nach dem Tod des Wissensträgers, sind wir in der Lage, mit den modernen Mitteln der Analytik einen Teil dieses Codes zu entschlüsseln. Die komplette Ausdeutung des Fundes innerhalb der Forschergruppe »Reflectors of the Past« wird sicher noch einige Jahre dauern. Neben einer umfassenden Monographie sind internationale Kolloquien, ein museumstherapeutisches Begleitprogramm sowie ein Besucherzentrum am Fundort geplant.


Text: Christian Heinrich Wunderlich
Online-Redaktion: Tomoko Emmerling, Anja Lochner-Rechta

Zum Seitenanfang