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Fund des Monats

April 2013: Ausgrabungen auf dem Zuckerberg

Zeugnisse komplexer Kommunikation im 12. Jahrhundert

Die Ortsbezeichnung »Zuckerberg« für eine sanfte Anhöhe in Zeitz (Burgenlandkreis) ist erst im frühen 19. Jahrhundert belegt (Abbildung 1). Sie geht vermutlich auf die dortige »Zuckerfabrik  von Moskovitz, Saverin und Partner« zurück, die 1839 gegründet wurde, und die im Umland angebauten Zuckerrüben verarbeitete. Die Anlage wurde in den Räumlichkeiten des 1814 säkularisierten Karthäuserklosters errichtet und produzierte bis zu ihrer Insolvenz Anfang der 1990er Jahre.
Danach verwahrloste die Anlage, ging für einen symbolischen Euro an die Kommune und verfiel weiter, bis man sich entschloss, die in ihrem Bestand bedrohten Industriebauten nebst den in rudimentären Resten erhaltenen Klostermauern einer neuen Nutzung zuzuführen.

Eine von der kommunalen Betreibergesellschaft in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie empfahl in der Folge, hier ein generationsübergreifendes Kommunikationszentrum von überregionaler Ausstrahlung sowie ein Infocenter einzurichten. So soll die Liegenschaft in Zukunft sowohl das alternative Jugendprojekt »Social Network e.V.« als auch eine Seniorenbegegnungsstätte (»Zwitscherstube«) beherbergen.
Bereits während der Planungsphase wurde den Verantwortlichen jedoch klar, dass aufgrund der bereit zu stellenden Infrastruktur (Ausschachtung von Breitbandkanälen, Einbau barrierefreier Roaming-Rooms, Verlegung von W-LAN-Kabeln et cetera) in nicht unerheblicher Weise in die Bodenstruktur des historischen Geländes eingegriffen werden musste. Für das Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt bot sich hier die einmalige Gelegenheit, im Rahmen baubegleitender Untersuchungen auch kleinparzellige Ausgrabungen durchzuführen, um die ehemaligen Strukturen der Klosterbauten zu erfassen und dadurch Einblicke in die Kulturschichten des 11/12. Jahrhunderts zu gewinnen.

Besondere Funde

Bei den Grabungen stieß man auf eine komplexe Zellenstruktur des ehemaligen Dormitoriums des Karthäuserklosters. Zudem konnten Reste des Refektoriums und der Latrinen erfasst werden (Abbildung 2). Unter den zahlreichen, für Grabungen in mittelalterlichem Kulturschichten typischen Keramikfunden (kurz- und mittelwellenbandverzierte Hartware) kamen mehrfach gefaltete Bleitäfelchen zu Tage, allerdings in einem Umfang, der die bislang gekannten Einzelfunde von bleiernen Beschwörungstafeln in überraschendem Maße übertrifft (Abbildung 3).
Nach einer mehreren Monate andauernden Restaurierung, die insbesondere die Entfaltung und Lesbarmachung der unzähligen, teils stark korrodierten Funde bedeutete, bot sich der interdisziplinären Arbeitsgruppe aus Archäologen und Medienwissenschaftlern ein überraschend komplexes Bild. Der Großteil der Tafeln folgte einem mehr oder weniger strengen Muster. Fast immer trugen die oftmals langen, senkrechten Streifen eine Art »Autorenporträt« mit dem Namenskürzel des Inhabers oder Besitzers der Bleitafel.

Daneben ist die lateinische Inschrift des Namens neben der Formel »est in facialis librem« zu lesen (Abbildung 4).
Darunter finden sich - häufig nicht entzifferbare - Eintragungen, die neben einer Tages- und sogar Stundenangabe alltägliche Vorkommnisse des Altagslebens vermerken. Leider sind viele davon mit heute kaum noch lesbaren Chiffren oder Kürzeln versehen, von möglicherweise beschwörendem Charakter haben, wie beispielsweise »ROFL«, »LOL«, »AFAIC«. Typische Eintragungen beziehen sich etwa auf das morgendliche Aufstehen, das Wetter, Alttagsverrichtungen wie die Durchführung der täglichen Notdurft, aber auch wertende Hinweise über andere Mitglieder der Gemeinschaft.
Zuweilen werden aber auch besondere Tugenden gerühmt, etwa die des verstehenden Lesens, welches Vorteile innerhalb der Glaubensgemeinschaft mit sich bringe.

Es ist bemerkenswert, dass diesen Eintragungen oft geradezu stereotype Kommentare folgen, die erkennbar in einer anderen Handschrift verfasst sind, und vermutlich von Personen stammen, die sich als »Freunde« (AMICI) bezeichnen. In den Kommentaren tragen die AMICI in der Regel nur kurze, chiffreartige Zeichen ein, unter denen eine stilisierte Hand mit einem krummen, nach oben zeigenden Daumen (offenbar eine Art Beschwörungs- oder Segensgestus) geradezu regelhaft in Erscheinung tritt. Daneben ist zumeist die Buchstabenfolge »mihi placet« erkennbar (Abbildungen 5 und 6).
Häufige »placet«-Eintragungen werden dabei gezählt, sodass man den Eindruck gewinnen kann, dass es sich hierbei um besonders begehrenswerte Auszeichnungen handelt, die den sozialen Status des Besitzers der jeweiligen Tafel besonders zum Ausdruck bringen soll.

Eine Analyse der Tafeln zeigt, dass diese sich zu Gruppen sortieren lassen, deren jeweilige Besitzer in einem besonderen Beziehungsgeflecht standen, indem sie sich gegenseitig in ihre Tafel schauen ließen und untereinander Kommentare und Markierungen austauschten. Der Sinn dieser Tafelwirtschaft indes ergibt sich möglicherweise aus dem Hintergrund des Karthäuserordens, der für sein besonders strenges Schweigegelübde bekannt ist. Längeres Schweigen führt ähnlich wie andere Formen sozialer Isolation häufig zu neurotischen Störungen, die oftmals in einer starken Sublimation und anderweitiger Ausübung unterdrückter Triebe ihren Ausdruck findet.
Vor diesem Hintergrund stehen die Kommunikationstäfelchen natürlich in besonderem Licht.  Sie boten den Mönchen die Möglichkeit, sich einerseits formal an das Schweigegelübde zu halten, andererseits jedoch dem Bedürfnis nach Kommunikation und Unterhaltung in nahezu eleganter Form nachzukommen.

Liber Facialis als Geschäftsmodell oder gar Kontrollinstrument?

Die Tafeln weisen ein einheitliches Grundformat auf und sind zudem mit immer derselben Herstellermarke versehen, die einem kleinen lateinischen »f« ähnlich sieht. So erscheint die Annahme begründet, dass der Zugang zu dieser Kommunikationstafelwirtschaft, möglicherweise durch den Orden oder einer anderen interessierten Macht, zentral gesteuert und kontrolliert wurde. Zum einen dürfte das dieser Organisation - sei es nun die Ordensleitung, die Kirche oder möglicherweise sogar ein obskurer Geheimbund - eine einträgliche Geldquelle beschafft haben. Interessanter noch ist, dass die Kommunikationstäfelchen in hoher Konzentration in einem separaten, massivwandigen Raum des Klosters aufgefunden wurden. Das lässt vermuten, dass derjenige, der über die Zugangsgewalt zu diesem Speicherort verfügte, über Einblick und damit umfängliche Kontrolle der von den Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft hinterlegten persönlichen Gedankengänge verfügte. Die damit verbundenen Möglichkeiten eines perfiden Kontroll- und Zensursystems innerhalb der Gemeinschaft der »Amici« kann man sich aus heutiger Sicht kaum ausmalen. Der Befund gewährt uns damit einen geradezu schauerlichen Einblick die geistigen Kontroll- und Inquisitionsmechanismen des Mittelalters: Verhältnissen also, die glücklicherweise in heutigen Zeiten vollkommen unvorstellbar sind.
 

Text: Christian-Heinrich Wunderlich
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta

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