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Fund des Monats

Februar 2016: »Hoch die Tassen« – Ein kleines Tontrinkhorn aus Pretzsch, Landkreis Wittenberg

Die Brandbestattung in Urnengräbern ist ein wesentliches Charakteristikum der spätbronzezeitlichen Kulturen in Mitteldeutschland  (circa 1300 bis 900 vor Christus).  Vor allem die teilweise aus hunderten Brandgräbern bestehenden Gräberfelder der hauptsächlich in Sachsen und Polen verbreiteten Lausitzer Kultur, sind durch häufig sehr reiche Keramikinventare aus jeweils bis zu mehreren Dutzend Gefäßen gekennzeichnet. Ein typisches Grab bestand meist aus einigen wenigen als Urne dienenden Gefäßen, in die der Leichenbrand einer oder mehrerer verstorbener Personen eingefüllt worden war. Die übrigen Gefäße des zur Bestattung gehörenden Geschirrsatzes wurden eng um die Urnen stehend gruppiert, ineinander gestapelt und umgestülpt als Deckel für die Urnen verwendet (Abbildung 1).

Die zahlreichen unterschiedlichen Gefäßformen von Schalen und Schälchen, Terrinen, Doppelkoni, Töpfen, Tassen, Flaschen und ihren jeweiligen Untervarianten erscheinen in Zusammensetzung und Machart zwar stark standardisiert, stellen aber den auswertenden Archäologen aufgrund ihrer schieren Masse vor große Herausforderungen.
Im Fund des Monats Februar soll der Fokus auf eine – gegenüber diesen tausendfach geborgenen regelhaften Keramiksätzen – ausgesprochen seltene Gefäßform gelenkt werden: tönerne Trinkhörner. Ein solches wurde bereits 1954 bei Grabungen in der kleinen Stadt Pretzsch an der Elbe im Landkreis Wittenberg gefunden. Nachdem bei Ausschachtungsarbeiten für zwei Wohnhäuser auf einer Anhöhe im Süden der Stadt keramische Funde zutage getreten waren, wurde durch die Bodendenkmalpfleger Hans Günther und Dr. Berthold Schmidt eine Notbergung durchgeführt, bei der insgesamt zwölf geschlossene Grabfunde, einige gestörte beziehungsweise unvollständige Grabfunde und weitere keramische Lesefunde der Lausitzer Kultur sichergestellt wurden. Sehr wahrscheinlich kann hier davon ausgegangen werden, dass im Bereich der Fundstelle nur ein kleiner Teil eines wesentlich größeren Gräberfeldes erfasst wurde. Dem Notbergungscharakter im Jahr 1954 ist es wohl zuzuschreiben, dass leider keine Grabungsaufzeichnungen überliefert sind, die Auskunft über Anordnung und Aussehen der Grabbefunde geben würden und im Fundbericht nur eine Auflistung zusammengehörender Keramikobjekte angegeben war.

Die Lage des Pretzscher Gräberfeldes und das Gebiet zwischen Schwarzer Elster und Dübener Heide markiert in der Spätbronzezeit einen der westlichsten Randbereiche des Verbreitungsgebietes der Lausitzer Kultur, welche die Gebiete Sachsen-Anhalt somit nur am Rand streift. In deren großräumigem Kulturgebiet zwischen Saale im Westen, Spree im Norden, Wahrte im Osten und nordwestlicher Slowakei im Süden kann eine Vielzahl regionaler Gruppen voneinander unterschieden werden.
Das Grab 7 der Pretzscher Gräbergruppe enthielt das wohl außergewöhnlichste Gefäß im Inventar der geborgenen Gräber. Es handelt sich um ein kleines tönernes Trinkhorn (Abbildung 2), dessen Oberteil in Form einer kleinen, dreigliedrigen Tasse ausgebildet ist. Unter dem Rand ist noch eine kleine kreisrunde geraute Stelle zu erkennen, bei der es sich um einen Henkelansatz handeln könnte. Der konvex gerundete Bauch ist schwach mit senkrechten bis schrägen Rillen verziert. Das Unterteil verläuft konisch in den trinkhornartig ausgezogenen Boden. Die Gesamthöhe des Trinkhorns beträgt maximal 13,1 Zentimeter. Deutliche Spuren von sekundärem Brand deuten darauf hin, dass das Horn bei der Verbrennung des oder der Toten zumindest teilweise mit im Feuer gelegen haben muss. Angaben zur Auffindungssituation sind jedoch unbekannt.

Bei den übrigen Gefäßen aus Grab 7 handelt es sich um meist unverzierte Terrinen unterschiedlichen Typs, Schalen, Schälchen mit und ohne Henkel, einer Tasse, einem Topf sowie mehreren Einzelscherben weiterer Gefäße. Bemerkenswert ist – auch durch Beigabenkombination mit dem Trinkhorn – die Beigabe von mehreren Tonperlen (Abbildung 3: 7/1, 2) sowie von einem Briquetage-Fragment (Abbildung 3: 7/17). Als Briquetage bezeichnet man in der Archäologie verschiedene Formen von technischer Keramik, die beim Salzsiedeprozess zum Einsatz kam. Briquetage kommt in den Gräbern der spätbronzezeitlichen Lausitzer Kultur ähnlich selten vor, wie tönerne Trinkhörner.
Die Verwendung von hornähnlichen Gefäßen aus Tiergehörn, Keramik, Holz oder Metall – sei es als Behälter oder als Trinkgefäß – kann für fast jeden Abschnitt der Vorgeschichte wahrscheinlich gemacht werden. Erste, wenn auch umstrittene Hinweise, finden sich schon im jungen Altsteinzeit und später mit eindeutigen Belegen auch in der Jungsteinzeit. Ab der jüngeren Bronze- und frühen Eisenzeit steigt die Anzahl überlieferter Tontrinkhörner aus Mitteldeutschland, Schlesien und Böhmen, vor allem in Zusammenhang mit Grabfunden der Lausitzer Kultur, sprunghaft an. Der Großteil stammt hierbei jedoch aus Altfunden ohne geschlossenen Fundzusammenhang. Unter den Trinkhornfunden Mitteldeutschlands liegt der Verbreitungsschwerpunkt vor allem in der Niederlausitz und im Gebiet zwischen Schwarzer Elster und Elbe (Abbildung 4), zu dem auch das Pretzscher Exemplar gezählt werden kann.

Die Varianzbreite der Gestalt publizierter Keramikhörner aus Mitteldeutschland erwies sich als äußerst vielfältig (Abbildung 5). Im Vergleich mit anderen Trinkhörnern bildet das Pretzscher Stück durch die deutlich dreigliedrige Tassenform des Oberteils und dem schmalen hornförmig ausgezogenen Unterteil eine unikate Besonderheit. Kein anderes bekanntes Trinkhorn zeigt eine so deutlich gefäßförmige Ausprägung des Oberteils. Vergleiche dafür finden sich eher und vor allem bei den etwa gleichzeitig vorkommenden »Stiefelgefäßen« der Lausitzer Kultur. Der Form nach noch annähernd vergleichbar sind zwei spätbronzezeitliche Keramiktrinkhörner aus Frankenhain (Abbildung 5.9) und Schlieben (Abbildung5.21), beide Landkreis Elbe-Elster sowie ein wohl früheisenzeitliches Exemplar von einem Gräberfeld der Billendorfer Kultur in Klein-Saubernitz, Landkreis Bautzen (Abbildung 5.14). Mit ähnlichem, aber schwächer ausgebildetem, gefäßförmigen Oberteil ist ein verziertes Trinkhorn aus einem Grab in Leipzig-Connewitz (Abbildung 5.16) erhalten. Ein diesem noch relativ nahe stehendes Exemplar stammt von unbekanntem Fundort (wohl Lausitz, Abbildung 5.10) und trägt sowohl auf der Schulter als auch am Hornkörper waagerechte Rillen. Ein spätbronzezeitliches, mit Rillen und Bogenriefen verziertes tönernes Trinkhorn aus Riesa, Landkreis Riesa-Großenhain (Abbildung 5.20), mit überrandständigem Ösenhenkel ist mit dem für mehrere Trinkhörner typischen einziehenden, abgesetzten Mündungsbereich versehen.
Exemplare mit schräg durchlochter Hornspitze stammen aus einem Gräberfeld von Altlommatzsch, Landkreis Meißen (Abbildung 5.1). Während von einem nur die Hornspitze erhalten ist, ist der Gefäßkörper des anderen – mit fast 20 Zentimeter Länge das größte bekannte Trinkhorn Mitteldeutschlands – in einfacher, unverzierter Hornform mit Henkelansatz wiedergegeben. Die Durchlochung an der Hornspitze diente wohl dem Einlassen einer Schnur, damit sein Besitzer es bei sich tragen konnte. Hier anzuschließen ist das Fragment eines ebenso an der Spitze durchlochten Trinkhorns aus einem Grab mit Tonklapper in Vogelform und zweifach durchlochter Tonscheibe aus Kötitz, Landkreis Meißen (Abbildung 5.15). Anzunehmen ist, dass es sich um ein dem aus Altlommatzsch sehr ähnliches Stück gehandelt haben muss. Ein weiteres Stück aus schwarzem Ton mit überrandständigem Henkel, einfachem unverzierten Hornkörper und wohl durchlochter Hornspitze wurde in Burg, Landkreis Cottbus, gefunden (Abbildung 5.6).

Die Zahl tönerner Trinkhörner in der Niederlausitz und dem Elbe-Elstergebiet wird durch weitere, in Periode V beziehungsweise die jüngere Bronzezeit datierende Exemplare erhöht. Dazu gehören zwei fein polierte Stücke aus Klein-Rössen, Landkreis Herzberg (Abbildung 5.13), ein unverziertes Tontrinkhorn mit Henkelöse aus Wahrenbrück, Landkreis Bad Liebenwerda (Abbildung 5.22) und eines aus einem Gräberfeld bei Falkenberg, Landkreis  Elbe-Elster (Abbildung 5.7). Letzteres ist mit einziehender Mündung und kräftig gebogenem Hornkörper mit schrägen und waagerechten Riefenverzierungen ausgeführt.
In der älteren Literatur wird von weiteren Exemplaren aus der näheren Umgebung berichtet, so von zwei »Horngefäßen« beziehungsweise »Tonhörnern« der Periode V aus dem Gräberfeld Schlieben, Landkreis Elbe-Elster. Eines wurde »mit Öse, Rillenband neben der Öse und radialen Rillenbändern« beschrieben. Das zweite, oben schon genannte, ist mit Ösenhenkel und schräg gerieftem Oberteil überliefert und trägt am Hornkörper eine reiche Verzierung aus Flechtbandmuster und waagerechten Riefen (Abbildung 5.21).
In späterer Zeit gelangten wohl auch einige Stücke in die Regionen westlich des Verbreitungsgebietes der Lausitzer Kultur, wie dies ein kleines Tontrinkhorn mit Standfuß aus Hoym, Landkreis Aschersleben-Staßfurt im Nordharzgebiet (Abbildung 5.12), belegt. Dieses wurde in einem Steinkistengrab mit Hausurne gefunden und datiert etwa Hallstatt B-C. Die meist verzierten Trinkhörner, die der Übergangszeit zwischen später Bronze- und beginnender Eisenzeit zugeordnet werden, stammen darüber hinaus aus Arenzhain, Landkreis Finsterwalde (Abbildung 5.2), Belten-Göritz, Landkreis Calau (Abbildung 5.4), Forst, Landkreis Spree-Neiße (Abbildung 5.8) und in isolierter Lage aus einem Gräberfeld in der Altmark von Lückstedt, Landkreis Stendal (Abbildung 5.17).
Die Zahl tönerner Trinkhörner vermehrt sich erheblich, beim Blick in die Gebiete Schlesiens, Nordböhmens und Großpolens. Hier erscheint eine ganze Bandbreite an Formen und Verzierungen mit oder ohne Henkel. Neben unverzierten Stücken existieren solche mit kombinierten Verzierungen aus Flechtbändern, waagerechten Riefen und/oder Rillenbündeln sowie später auch geometrischen Bemalungen. Ein solches stammt aus einem vermutlich Hallstatt C-zeitlichen Grab des eponymen Fundortes von Billendorf. Es ist mit 10 Zentimeter Länge etwa von gleicher Größe wie das Pretzscher Stück und mit Flechtbandmustern verziert. Ein Großteil der tönernen Trinkhörner des östlichen Mitteleuropas datiert in den Zeitraum von später Bronzezeit (Hallstatt B) bis früher Eisenzeit (Hallstatt C).
Wie oben beschrieben, ist das Pretzscher Exemplar von besonderer Bedeutung, da das tassenförmige Oberteil in dieser klaren Ausprägung eine singuläre Form darstellt, die bei keinem anderen bekannten Stück zu beobachten ist. Bei den Tonhörnern aus Riesa, Falkenberg, Schlieben oder Leipzig-Connewitz (siehe oben) lässt sich nur ein engmundiges, schwächer abgesetztes Oberteil mit kurzer einziehender Schulter feststellen. Einen Ansatz zur Frühdatierung, weil »Trinkhorn und Tasse noch als zwei annähernd gleichgewichtige Teile empfunden und darum deutlich voneinander geschieden« wurden, wie Peschel (1990, 69) es vorschlug, kann durch gleichzeitige oder gar ältere Nachweise mit einfacher Hornform nicht aufrecht erhalten werden, wie das zum Beispiel durch den Fund von Altlommatzsch, Landkreis Meißen, bestärkt wird.

Bemerkenswert ist, dass tönerne Trinkhörner im Bereich der gleichzeitigen Urnenfelderkultur in Süddeutschland so gut wie unbekannt sind. Die einzigen Nachweise stammen aus einem früheisenzeitlichen Hügelgrab in Polsingen, Landkreis Weißenburg-Gunzenhausen/Bayern, mit zwei gleichförmigen naturalistischen Tontrinkhörnern mit waagerechten Riefenbündeln und Graphitbemalung (Hoppe 1986, 80) sowie zwei Tontrinkhörner aus Auvernier am Neuenburgersee in der Schweiz (Krausse 1996, 406).
Ungeachtet der Herkunftsfrage bleibt festzuhalten, dass das tönerne Trinkhorn im spätbronze- bis früheisenzeitlichen östlichen Mitteleuropa einen hohen Stellenwert genoss und durch eine beachtliche Fundzahl vertreten ist. Im Vergleich mit der Quantität übriger Keramikfunde dieser Zeit handelt es sich aber um eine allgemein selten anzutreffende Fundgattung. Dieser Umstand deutet einen besonders hervorgehobenen Sachwert des persönlichen Besitzes eines Trinkhorns an, der nicht jedem Gesellschaftsmitglied ohne weiteres zustand, zumal jene – soweit bekannt – fast immer aus Grabfunden stammen. Die Stellung des Trinkhorns als Prestige- und/oder Statussymbol sozial sonder- beziehungsweise höhergestellter Personen ist daher, wie in frühkeltischer Zeit, auch schon im Lausitzer Kulturbereich anzunehmen. Die gemeinsame Beigabe von Trinkhorn und Briquetage neben feinpolierter Keramik im Pretzscher Grab 7 bestätigt diese These.
Trinkhörnern kann aufgrund ihrer sehr starken Konnotation mit Fruchtbarkeit, Männlichkeit, Macht, Prestige und Status allgemein ein sehr hoher Symbolwert zugeschrieben werden, der vermutlich zu allen Zeiten generelle Gültigkeit besaß. Dies wird durch zahlreiche auch herausragende archäologische und historische Belege der Verwendung von zum Teil sehr großen Hörnern des Auerochsen als Trinkgefäße oder der Herstellung von trinkhornförmigen Prunkgefäßen aus Glas, Bronze oder sogar Gold von der Eisenzeit, über die Germanen und Wikinger bis in die frühe Neuzeit hinein bestätigt. Auch heute noch erfreuen sich Naturhörner als Trinkgefäße nach wie vor großer Beliebtheit in einem breiten Kundenkreis zwischen Mittelalterdarstellern, Esoterikern und Anhängern der Metalszene. Die kleinen bronzezeitlichen Tonhörner der Lausitzer Kultur, unter denen das Pretzscher Trinkhorn einen der ältesten Vertreter darstellen dürfte, markieren somit den Beginn dieser Entwicklung.


Text: Norma Literski-Henkel
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta

 

Literatur

B. Gediga, Motywy Figuralne w Sztuce Ludności Kultury Łużyckiej. (Wrozław/ Warzawa/ Kraków 1970).

W. Grünberg, Die Grabfunde der jüngeren und jüngsten Bronzezeit im Gau Sachsen. (Berlin 1943).

M. Hoppe, Die Grabfunde der Hallstattzeit in Mittelfranken. Materialh. Bayer. Vorgesch. A 55 (Kallmünz 1986).

D. Krausse, Hochdorf III. Das Trink- und Speiseservice aus dem späthallstattzeitlichen Fürstengrab von Eberdingen-Hochdorf (Kr. Ludwigsburg). Forsch. u. Ber. Vor- u. Frühgesch. Bad.-Württ. 64 (Stuttgart 1996).

N. Literski, Das jüngstbronzezeitliche Gräberfeld von Pretzsch/Fst. 8 (Osterberg), Lkr. Wittenberg. Unveröff. Magisterarbeit Univ. Halle 2006.

K. Peschel, Die Billendorfer Kultur westlich der Elbe. Veröff. Landesmus. Vorgesch. Dresden 21 (Berlin 1990).

T. Schunke, Tausend Töpfe: bronzezeitliche Grabfunde aus Coswig. In: H. Meller (Hrsg.), Schönheit, Macht und Tod. 120 Funde aus 120 Jahren Landesmuseum für Vorgeschichte. Begleitband zur Sonderausstellung vom 11. Dezember 2001 bis 28. April 2002 (Halle 2001) 262–263.

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