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Fund des Monats

April 2001: Tote Babys in Töpfen vergraben?

Ein friedlicher Abend am Ortsrand von Eisleben. Eine Gruppe von Frauen steckt ihre Köpfe an einem Fleck auf einer großflächigen Baustelle zusammen. Dort, wo heute die Ortsumgehung entsteht. Im Hintergrund Planierraupen, Bauwagen - eine Baustelle wie jede andere? Ein bärtiger junger Mann mit Hut stapft heran, in der Hand hält er eine kleine Spitzkelle.

Die Sonne senkt sich bereits, doch trotz der vorgerückten Stunde ist - wie so oft - die Arbeit noch nicht beendet. Der Mann mit dem Hut heißt Hans Szédeli, er ist Archäologe und Grabungsleiter. Bei den Damen an seiner Seite handelt es sich nicht um benachbarte Kleingärtner, sondern um eine gut gelaunte Grabungs›mann‹schaft. Obwohl sich die Belegschaft bereits seit den frühen Morgenstunden in die Arbeit gekniet hat, müssen diese Funde noch aus der Siedlungsgrube genommen werden. Wer weiß schließlich, was die Nacht bringt? Nicht selten kommen heimliche Besucher oder ein Sommerregen, der die Gruben mit Wasser füllt.

Die Ausgrabung, die bei Eisleben vorgenommen wurde, hat zahlreiche Funde einer Siedlung erbracht. Während der späten Bronze- und frühen Eisenzeit, also vor rund 3000 Jahren, haben hier bereits Menschen gelebt (Abbildung 1). Sie waren in unseren Augen vielleicht einfache Menschen, aber nur, weil sich uns ihre Kultur nicht vollständig erschließt. Was wir von ihnen finden, sind Abfallgruben und die Grundrisse ihrer Häuser. Die Scherben von Gefäßen - mal verziert, mal schlicht - zeugen nicht von Luxus. Wie Kriminalisten durchsuchen die Archäologen die Hinterlassenschaften unserer Ahnen.

Viele der Siedlungsgruben waren von Tiergängen durchzogen, denn Feldhamster und Wühlmäuse hatten - Jahre später - diesen Ort als Lebensraum genutzt. Die Grabungsmannschaft arbeitete sich mit großem Elan tiefer in den  Boden hinein, um der Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes auf den Grund zu gehen. Und selbstverständlich interessierte man sich - am Rande - auch für die Spuren der kleinen Wühler. Die Mitarbeiterinnen waren erstaunt, als beim Schneiden einer Siedlungsgrube (Befund 438B) winzige Skelettelemente aufgefunden wurden. War hier schließlich einer der kleinen Nager zu Tode gekommen? Dem geübten Blick des herbeigerufenen Archäologen offenbarte sich jedoch nicht wie erwartet ein Hamsterskelett, sondern die Überreste eines menschlichen Säuglings. Umgehend wurden die Knochen ins Landesmuseum nach Halle gebracht und dort untersucht.

Erst im Labor wurde der ohnehin schon außergewöhnliche Befund 438B dann zur kleinen Sensation:

Die Altersbestimmung an den Skelettresten ergab nämlich, dass es sich um einen menschlichen Fötus handelt.
Ein Kind wird durchschnittlich nach 38 Wochen Schwangerschaft geboren, doch der Entwicklungsstand dieses Kindes entspricht etwa der 33. Schwangerschaftswoche (Abbildung 2). Mangelernährung und Infektionskrankheiten lassen sich an vielen Skelettresten belegen. Die Kindersterblichkeit war in der Vergangenheit weitaus höher als in der heutigen Industriegesellschaft. Erstaunlicherweise sind Kleinkinder und Säuglinge jedoch nur selten in den Gräbern anzutreffen. Blieben etwa die zarten Knochen nicht erhalten oder unterlagen verstorbene Kinder einem anderen Bestattungsbrauch als Erwachsene?

Hinweise für die letztere Hypothese liefert ein Bericht des römischen Schriftstellers Plinius (23/24 bis 79 nach Christus), in dem es heißt, dass Kinder vor dem Durchbruch der ersten Zähne nach anderem Ritus beigesetzt wurden als ältere Kinder und Erwachsene.

War dies ein Brauch, der so oder so ähnlich schon in der Bronzezeit gepflegt wurde?

Das Baby von Eisleben war jedenfalls in einer Abfallgrube niedergelegt worden. Nach diesem wichtigen Fund ging die Grabungsmannschaft noch vorsichtiger als sonst beim Putzen der Gruben vor, und sie wurde erneut fündig.

Die Siedlungsgrube 226 ergab das nahezu vollständige Skelett eines zweiten Kleinkindes (Abbildung 3). Dieser Fötus hatte - wie die anthropologische Bestimmung jetzt ergab - das Entwicklungsstadium des 8. Schwangerschaftsmonat noch nicht abgeschlossen. Die Anspannung war groß, als beim Freilegen eines Gefäßes in Befund 806 wiederum kleine Knochen zu Tage kamen. Sofort wurden die Aktivitäten gestoppt und eine Blockbergung vorgenommen. Das Gefäß wurde mit seinem Inhalt ins anthropologische Labor gebracht und dort weiter bearbeitet. Aus diesem Gefäß (Abbildung 4) wurden die Reste eines dritten Kindes freipräpariert. Die Entwicklung des Fötus lag zwischen dem 8. und 9. Monat der Schwangerschaft.  Leider waren die Skelettelemente so schlecht erhalten, dass die genaue Lage des Leichnams im Gefäß nicht mehr rekonstruiert werden konnte.

Diesem Fund gebührt insofern besondere Aufmerksamkeit, da er Rückschlüsse auf die Stellung der Ungeborenen oder Frühgeborenen in der damaligen Gesellschaft erlaubt. So wurden im Christentum ungetaufte Kinder lange Zeit nicht regulär bestattet, weil sie noch nicht als vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft angesehen wurden. Gab es in der Vorzeit vielleicht ähnliche Vorstellungen? Eine Niederlegung des Leichnams in einer ›Urne‹, wie dieser Fund aus Eisleben, widerspricht dem. Damit stellte sich die Frage: Sind auch die beiden ersten Kinder aus Eisleben in Gefäßen bestattet worden?

Um eine Antwort darauf zu bekommen, wurden die Keramikscherben aus den Siedlungsgruben (Befund 226 und 438B) einer genauen Begutachtung unterzogen. Ein nahezu vollständiges Gefäß konnte aus Befund 226 rekonstruiert werden und so kann auch der Fötus aus dieser Siedlungsgrube ursprünglich in einem Gefäß beigesetzt gewesen sein. Die Grube 438B dagegen enthielt nur sehr wenige Scherben - dieses Kind wurde wohl ohne Gefäß bestattet. Die Ergebnisse sind noch widersprüchlich, da es außer den winzigen Skeletten von Eisleben so gut wie keine Vergleichsfunde aus der Eisenzeit gibt. Doch bis sich die geistigen Hintergründe der Menschen von damals entschlüsseln lassen, wird noch einige Zeit ins Land gehen. Aber das Puzzle füllt sich.


Text: Alfred Reichenberger, Renate Schafberg, Hans Szédeli
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta

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