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Fund des Monats

Juli 2006: Vermessen

Schumacher in Jerichow

Als Fund des Monats soll diesmal ein Fuß präsentiert werden. Wir allen kennen einen Fuß (wenigstens jeder seinen) und zur Fußball-WM zählt er zu den bedeutendsten Körperteilen. Die Auffindung eines Fußes ist im archäologischen Kontext nicht unbedingt etwas Seltenes.. Der Fuß, der hier vorgestellt werden soll, ist als Bodenfund die Ausnahme. Genau genommen, gibt es im Depot des Museums mit einer geschätzten Gesamtobjektzahl von über zehn Millionen keinen vergleichbaren Fund. Es handelt sich bei dem Fuß um einen Maßstab in der Länge eines Maßfußes. Er wurde bei Ausgrabungen in Jerichow (Landkreis Jerichower Land) gefunden.

Bei der grundhaften Sanierung der Ortsdurchfahrt (= Bundesstraße 107) des an der Elbe gelegenen Ackerbürgerstädtchens, wurde, neben Fundamentresten, Spitzgrabenanlage, Gräbern und Töpferhalden, ein Bohlenweg freigelegt. Auf mehr als 900 Meter Lauflänge konnte dieser Nachweis im Bereich der Durchgangsstraße geführt werden; im nördlichen Stadtgebiet verlässt der historische Weg die heutige Trasse Richtung Kloster Jerichow und ist durch Hausbauten und ähnliches zerstört. Im Süden zeigt er eine Fortsetzung in den Bereich einer früheren Ortslage, südlich des heutigen Zentrums. Dieser Bereich scheint im 14. Jahrhundert durch gewaltiges Hochwasser verwüstet worden zu sein; nachfolgend wurde die Siedlung Richtung Norden, auf höherem Gelände, wieder aufgebaut und später erweitert. Die Schnittprofile zeigen mehrere überschichtende Straßenlagen, beginnend im 13 und 14. Jahrhundert. Die letzte Holzlage ließ sich dendrochronologisch  ans Ende des 16. beziehungsweise ins 17. Jahrhundert zu datieren. Darüber fand sich eine extrem feste  Erdschicht vermengt mit  Keramik-, Glas- und Ziegelschutt, Knochenfragmenten, Holz-, Lederresten und reichlich Blaueisenerde, sogenanntes Vivianit. Die Holzbohlen (meist Kieferrundlinge, zum Teil mit Waldkante) waren bis zu fünf Meter lang und quer zur Fahrtrichtung dicht an dicht verlegt und mit Astwerk unterfüttert. Sie wiesen praktisch keine Fahrspuren auf. Ob dies der verfestigten Deckschicht oder einer noch darüber angebrachten Holzlage, die möglichweise für den Pflasterstraßenbau des 19. und 20 Jahrhunderts entfernt wurde, zu verdanken ist, konnte nicht geklärt werden. Weitere, allerdings fragmentierte Fortsetzungen des Holzweges zeigten sich in abzweigenden Straßen Richtung Westen und Osten.
Der Kernbereich des Bohlenweges wurde auf 150 Meter Länge eingehend untersucht und schichtweise aufgedeckt. Dabei wurde unter anderem im Planum 1, noch über der Holzlage, in der festen Deckschicht ein Maßstab aus Holz gefunden (Abbildung 1). Da die Deckschicht erst nach der Holzlage aufgebracht werden konnte, ist die Datierung des Fundes vor dem Ende des 16. Jahrhundert  nicht möglich. Vergesellschaftet mit zahlreichen Lederresten aus der örtlichen Schuhproduktion (siehe FuMO August 2006) – bis zu 25 Schusterwerkstätten sind im 19. Jahrhundert in Jerichow bezeugt – ist eine Datierung ins 18. und 19. Jahrhundert am wahrscheinlichsten.

Der fußlange Maßstab mit Zolleinteilung ist der Namenspate des auch noch heute beliebten Zollstocks.
Dem konservativen Maßverständnis der Engländer ist es zu verdanken, dass der Zoll noch lange nach Einführung des metrischen Systems auf dem europäischen Festland in Gebrauch blieb. Diese Zweigleisigkeit in den Maßsystemen schlug sich schließlich auch im Maß- und Gewichtsgesetz von 1935 nieder. Nach diesem durften auch Messgeräte hergestellt werden, die neben der metrischen Teilung noch eine andere Teilung besaßen. In der Folge wurden Gliedermaßstäbe mit metrischer Teilung auf der Vorderseite und Zollteilung (englisch inch = 25,4 Millimeter) auf der Rückseite produziert, was zu einer Festigung des Namens ›Zollstock‹ in Handwerk und Handel führte.
Der hölzerne Maßstab aus Jerichow ist in drei Teile zerbrochen. Die Bruchkanten passen gut zusammen, sodass man die ursprünglichen Maße ermitteln kann. Er ist insgesamt 30,7 Zentimeter lang, 11,5 bis 12 Millimeter breit und 8,9 bis 9,3 Millimeter stark. Querritzungen teilen den Maßstab in 12 etwa gleichgroße Abschnitte. Dazu befinden sich als weitere Markierungen punktuelle Vertiefungen auf dem Maßstab, die den halben Zoll markieren sollen. Jeweils drei Zoll sind durch einen Doppelpunkt markiert. Die Größe der Abschnitte zwischen den Querritzungen schwankt zwischen 2,28 und 2,78 Zentimeter. Bei Einbeziehung der Halbzoll-Markierungen, würden die Abweichungen noch größer ausfallen.
Die Gesamtlänge des Maßstabs entspricht einem Maßfuß mit einer Länge von rund 30,7 Zentimeter. Der ›Fuß‹ war eine Basiseinheit der vormetrischen Längenmaße. Die genaue Länge des Maßfußes variiert regional und durch die Zeit zum Teil erheblich. Bei den antiken Römern entsprach er einer Länge von 29,6 Zentimeter, in Frankreich bis zur Einführung des Meters 32,5 Zentimeter und in England bis heute 30,5 Zentimeter.
In Preußen galt bis zum Beitritt zur Meterkonvention 1872 ein Fuß mit der Länge von 31,4 Zentimeter. Diesen dürfte auch das vorliegende Exemplar repräsentieren. Die Abweichung von sieben Millimeter erscheint als sehr hoch, kann aber verschiedene Ursachen haben. Zum Beispiel könnten die Enden durch Gebrauch abgenutzt sein oder es liegt überlieferungsbedingt ein gewisser Materialschwund vor. Zusätzlich kann es schon bei der Fertigung des Maßstabs zu Maßabweichungen und Ungenauigkeiten gekommen sein. Auch die Zolleinteilung mit einer Abweichung von fünf Millimeter ist relativ ungenau. Ebenso wäre denkbar, dass in Jerichow die preußische Maßreform, die nach den Befreiungskriegen durchgeführt wurde, noch nicht alle Maße lokaler Tradition abgelöst hatte.

Eine kleine Geschichte des Längenmaßes Fuß

Die Geschichte des Längenmaßes ›Fuß‹ und seiner Unterteilung ›Zoll‹ reicht weit in die Vergangenheit zurück. Die ältesten Maßfüße sind uns aus dem Vorderen Orient überliefert. Als zwei prominente Beispiele seien hier der Maßstab einer Statue des Gudea von Lagasch und ein Maßstab aus Nippur erwähnt, die beide älter als 4000 Jahre sind (Abbildung 2). E. Unger beschreibt sie in seinem 1916 erscheinenden  Aufsatz »Zwei babylonische Antiken aus Nippur«. Demnach ist der sitzende Gudea verkleinert wiedergegeben, der Maßstab auf seinem Schoß aber, so nimmt man an, hat die natürliche Größe. Zwischen den zwei äußeren Markierungen beträgt der Abstand circa 26,5 Zentimeter, was einem Fuß entspreche. Diese Strecke ist in 16 gleiche Abschnitte unterteilt, die Unger ›Zoll‹ nennt. Dessen Größe schwanke zwischen 1,6 und 1,8 Zentimeter. Die kleinste Unterteilung des Maßstabes ist 1/18 Zoll. Die Nippur-Elle ist laut Unger ein circa 1,10 Meter langer und 41,5 Kilogramm schwerer Bronzestab mit einem in der Länge variierenden rechteckigen Querschnitt. Auf einer Seite ist eine Teilung durch sechs Kerben zu beobachten, die Unger wie folgt beschreibt: »Hiervon sind ein bis vier tiefe glatte Furchen, fünf bis sechs anscheinend später eingemeißelte schwächere Rillen.«

Als wichtigste abnehmbare Maße des Maßstabs nimmt Unger die zwischen den Kerben:

1 und 2           entspricht 6,7 Zentimeter

1 und 3           entspricht 27,65 Zentimeter (›Fuß‹) und

1 und 4           entspricht 51,8 Zentimeter (›Elle‹) an.

Bei weiteren Maßvarianten des Maßstabs beobachtet er Abweichungen bis zu drei Millimeter, »was ja im Hinblick auf andere Messfehler nicht zuviel ist.« (Unger, 1916, 12)
Im Verlauf der weiteren Entwicklung der historischen Überlieferung treten immer mehr Varianten der Längenmaße aus dem Dunkel ins Licht der Geschichte. Scheinbar hatte jede kulturelle Gemeinschaft mehr oder weniger individuelle Maße, die zwar ähnliche Abmessungen hatten aber letztlich eben doch nicht gleich waren. Obwohl die Überlieferung lückenhaft ist, kann man die Entwicklung von ›Fuß‹ und ›Zoll‹ entlang der wichtigsten ›Meilensteine‹ ganz gut nachvollziehen.
Nach den ältesten bekannten Maßstäbe von Gudea und aus Nippur gibt es erst aus dem 7. Jahrhundert vor Christus wieder genauere Informationen über Längenmaße im Zweistromland. Der neubabylonische Herrscher Nebukadnezar II. hinterließ Dokumente, aus denen hervorgeht, dass zu seiner Zeit das Ziegelmaß von 32 bis 33 Zentimeter in 16 Zoll eingeteilt war und die Elle nicht mehr 30 sondern 24 Zoll lang ist.

1 Zoll              entspricht 1 Finger                             circa 2 Zentimeter

16 Zoll            entspricht 1 Fuß                                 circa 32 Zentimeter

24 Zoll            einspricht 1,5 Fuß       entspricht 1 Elle         circa 0,5 Meter

Der um einige cm gewachsene Maßfuß war auch in anderen Regionen gebräuchlich und wird mit den schon oben erwähnten variantenreichen Abweichungen auch von Griechen und Römern benutzt. Heute wird oft angenommen, das Maß ›Fuß‹ sei direkt vom anatomischen Fuß abgenommen. Bei einer Gleichsetzung des Maßfußes mit dem anatomischen Fuß müsste man annehmen, unsere Altvorderen lebten› auf großem Fuße‹, da eine Fußlänge von 32 Zentimeter der Schuhgröße 48 entspricht. Spezielle Untersuchungen zur Fußgröße in Mittelalter und Vorgeschichte fehlen zwar, aber allgemeine anatomische Beobachtungen sprechen dafür, dass die Menschen damals in der Regel kleiner waren als die heute Lebenden. Statistiken zu mittelalterlichen Schuhgrößen belegen, dass der normale Fuß eines erwachsenen Mannes ungefähr 26 Zentimeter groß war, was der Schuhgröße 39 entspricht.
Für die weiter Entwicklung der Maße lohnt es sich zu beobachten, was passiert, als die Römer als Speerspitze der alten Kulturnationen begannen, sich im barbarischen Europa auszubreiten. Sie brachten einen Maßfuß in der Länge von circa 29,6 Zentimeter mit, den sie in alter Tradition in 16 Zoll teilten. In Italien dann passiert aber etwas bemerkenswertes: Die Römer gestatteten neben der alten 16er-Teilung auch die 12er-Teilung des Fußes. Dieser Vorgang war auch schon im 19. Jahrhundert August Böckh, einer der Väter der Metrologie, aufgefallen. Er vertrat eigentlich die Meinung, dass kulturelle Entwicklung immer von dem kulturell höher stehenden Volk an das kulturell niedrig stehende Volk weitergegeben wurde. Also wurden nach seiner Auffassung auch die Maße und Gewichte von den Babyloniern und Ägyptern über die Griechen und Römer nach Europa gebracht. Dass die Römer ein Maß der Urbevölkerung übernommen haben sollen, scheint ihm ungeheuerlich. Trotzdem stellte er in seiner Abhandlung von 1838 fest, dass neben der 16er-Teilung der Römer »eine wirklich eigenthümliche der Italer bestand«, die letztlich auch Anlass für eine Reformierung des römischen Systems war.

1 Zoll              entspricht  1 Daumen                         circa 2,47 Zentimeter

12 Zoll            entspricht 1 Fuß                                 circa 29,6 Zentimeter

18 Zoll             entspricht 1,5 Fuß      entspricht 1 Elle         circa 44,4 Zentimeter

Die Römer, so scheint es, fanden in Italien einen ›europäischen Zoll‹ vor. Dieser Zoll wurde von der Antike über das Mittelalter bis in die Neuzeit benutzt und auch als Einteilung des Jerichower Maßstabes benutzt.
Am 17. August 1868 schlägt dann allerdings, zumindest für unsere Region, sein letztes Stündlein. An diesem Tag hielt das metrische System mit der ›Maß- und Gewichtsordnung für den Norddeutschen Bund‹ seinen gesetzlichen Einzug.
In dieser wurden die Längenmaße neu definiert. Die Grundeinheit bildet nun ›das Meter‹ oder ›der Stab‹. Der hundertste Teil des Meters heißt ›Zentimeter oder Neuzoll‹. Der tausendste Teil heißt ›Millimeter oder Strich‹. Zehn Meter heißen ›Dekameter oder Kette‹. Tausend Meter heißen 1 Kilometer (v. Alberti, 1957).In der Nomenklatur sind noch die Relikte alter Traditionen erhalten. Im Lauf der Zeit setzten sich aber die neuen Bezeichnungen der Maße durch und die alten gerieten in Vergessenheit.
Der ›Zollstock aus Jerichow‹ verliert demnach spätestens mit dem Erlass von 1868 seine Gültigkeit. Damit endet eine Entwicklung, deren Anfang sich in den tiefen der Zeit verliert. Trotzdem kann man dem Zoll auch heute noch begegnen. Man findet ihn zum Beispiel noch bei der Angabe von: Bildschirmdiagonalen, Bildauflösung, Festplatten- und Diskettenmaßen, Fahrradfelgendurchmesser, Bundweite (englisch: waist) und innerer Beinlänge (englisch: length) von Hosen (zum Beispiel: W 32″ / L 34″).


Text: Heiko Breuer, Johannes Litzel
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta

 

Literatur

v. Alberti 1957
H.-J. von Alberti, Maß und Gewicht (Berlin 1957).

Unger 1916
E. Unger, Zwei babylonische Antiken aus Nippur, Publicationen der Kaiserlichen Osmanischen Museen (Konstantinopel 1916).

Böckh 1838
A. Böckh, Metrologische Untersuchungen über Gewichte, Münzfüße und Maße des Alterthums in ihrem Zusammenhange (Karlsruhe 1838, Nachdruck 1978).

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