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Fund des Monats

Juni 2018: Aus eins mach zwei

Ein Blick ins Archiv führt zur Neubewertung eines jungsteinzeitlichen Grabenwerkes aus Rössen

Eine viereckige Gräbereinfriedung aus neolithischer Zeit

»Beim Bau der Eisenbahnstrecke Merseburg–Zöschen wurden 1915 zwischen dem Gräberfeld der Rössener Kultur und dem Rössener Grabhügel die Verfärbung eines viereckigen Grabenwerkes mit Seitenlängen von 55 Metern entdeckt, in dessen Innenfläche sich jungsteinzeitliche Gräber befanden. Es könnte sich dabei um eine Gräbereinfriedung aus neolithischer Zeit handeln.« (Kaufmann 1998, 27).
Das von Dieter Kaufmann erwähnte Grabenwerk in Rössen, heutzutage ein Ortsteil von Leuna (Saalekreis), blieb innerhalb wissenschaftlicher Arbeiten zur Jungsteinzeit (Neolithikum) bislang nahezu unberücksichtigt (so auch Preuss 1966, 182 – hier ist in Zusammenhang mit Grab XII kein Grabenwerk erwähnt). Im Kontext der sogenannten Trapezanlagen der Baalberger Kultur (4000 bis 3400 vor Christus) als großräumige «Gräbereinfriedungen» fand das Rössener Grabenwerk lediglich Erwähnung in den »Pilotstudien« von Ralf Schwarz (2003, 73). Obschon neben den regelhaft trapezoiden bis rechteckigen Grabeinfriedungen im Kontext der Baalberger Kultur durchaus auch quadratische bekannt sind (Möbes 1983), erscheint die Größe der bei Dieter Kaufmann erwähnten Anlage von 55 mal 55 Metern doch eher ungewöhnlich. Eine erneute Durchsicht der in den Ortsakten des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt für die Gemarkung Rössen befindlichen Grabungsunterlagen zeigte schließlich, dass derartige Zweifel nicht unberechtigt sind.

Die innerhalb der Ortsakten vorliegende Beschreibung seitens des Ausgräbers P. Bergersaus dem Jahr 1925 scheint zunächst keine Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass wir es hier mit einer eindeutigen Befundsituation zu tun haben. Demnach traten im Zuge von Erdarbeiten im Jahr 1915 unmittelbar südlich der Ortschaft Rössen mehrere Gräber zu Tage, welche von einer 55 mal 55 Meter großen Grabenanlage umschlossen wurden (Abbildung 1). Soweit scheinen die Angaben mit jenen aus der Literatur (Kaufmann 1998) übereinzustimmen. Dieter Kaufmann seinerseits bezieht seine Angaben jedoch nicht nur aus den Ortsakten selbst, sondern zitiert N. Niklassons Bericht über neuere Ausgrabungen in Rössen aus dem Jahr 1920 (Niklasson 1920, 314), eine Abhandlung also, die bereits fünf Jahre vor der Niederschrift P. Bergers zu den Grabungen erschienen ist. Und hier findet sich bereits der erste Widerspruch zu den Angaben von P. Berger. Nach N. Niklasson besaß die Grabenanlage nämlich lediglich eine Länge von 20 und eine Breite von 15 Metern. Dieter Kaufmann (1998, 28) hält die Angaben N. Niklassons für nicht zutreffend. Er weist darauf hin, dass die Trasse der Bahn eine Breite von 20 Metern besaß und somit das gesamte Viereck hätte erfassen oder zerstören müssen – was jedoch nach den Informationen von P. Berger für das von ihm beschriebene Grabenviereck nicht zutrifft. Dagegen scheint er mit N. Niklassons Angaben zu den gefundenen Gräbern übereinzustimmen, obschon dieser – im Gegensatz zu P. Berger – insgesamt vier Gräber beschreibt (Niklasson 1920, 314f.). Dazu zählt ein West-Ost-orientierter Hocker mit einer plastisch verzierten Amphore (Stelle XII), ein Nord-Süd-ausgerichtetes Scherbenpackungsgrab, ein ebenfalls Nord-Süd-orientierter Hocker mit einer Armschutzplatte und einem unverzierten Becher (Stelle XX) sowie eine Steinkiste mit Kinderskelett, welches neben durchbohrten Muschelscheiben zwei Gefäßbeigaben aufwies. Zu den bei Dieter Kaufmann nicht näher beschriebenen Gräbern gehören eine weitere Steinkiste mit Kinderbestattung ohne Beigaben sowie ein ‚freiliegender‘, rechtsseitiger Hocker, ebenfalls ohne Beigaben.

Aus den geschilderten Widersprüchen ergibt sich die Frage, auf welchen Informationen N. Niklassons Angaben beruhten, wo doch P. Berger selbst die Ausgrabungen im Jahr 1915 leitete. Die Erklärung dafür liefern mehrere Seiten der originalen Tagebuchaufzeichnungen P. Bergers von 1915, welche sich ebenfalls in den Ortsakten zur Gemarkung Rössen befinden. Auf einer der Tagebuchseiten findet sich die Skizze eines annähernd West-Ost-ausgerichteten Rechtecks. Die restlichen Seiten des Tagebuchs schildern minutiös die einzelnen Befunde innerhalb und außerhalb des Grabenwerkes. Anhand der einzelnen Detailskizzen lässt sich für die Einfriedung eine Größe von etwa 20 mal zwölf Metern annehmen, was den Angaben N. Niklassons entspricht (Abbildung 2). Unter den verzeichneten Stellen I bis XX befinden sich auch die von N. Niklasson (1920) und P. Berger (1925) beschriebenen Gräber.
Eine Gesamtbetrachtung der Grabungsunterlagen sowie ein Vergleich der zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstandenen Aufzeichnungen macht deutlich, dass sich in den von P. Berger im Jahr 1925 gemachten Aussagen zwei unterschiedliche Befundsituationen vermischen. Vermutlich griff P. Berger 1925 nicht erneut auf die zehn Jahre alten Grabungsunterlagen zurück, sondern schilderte die Beobachtungen aus seinen Erinnerungen heraus. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die widersprüchlichen Informationen aufzulösen, um so zu einem möglichst authentischen Befundbild zu gelangen (Abbildung 3).

Ein Grabengeviert der Baalberger Kultur

Im ersten Abschnitt der Bahntrasse fanden die Arbeiter neben zahlreichen Gruben und Gräbchen eine West-Ost-orientierte rechteckige, etwa 20 Meter lange und zwischen zehn und 15 Meter breite Umfriedung – in den Tagebuchaufzeichnungen P. Bergers ist dies leider nur als Skizze festgehalten. Sowohl im Innenbereich als auch außerhalb dieser Einfassung wurden insgesamt fünf Gräber dokumentiert. Dazu zählt zunächst ein West-Ost-orientierter, linksseitiger Hocker der Baalberger Kultur (Stelle XII), mit welchem die Errichtung des Grabengevierts einherging (Abbildung 4). Auch die Lage des Grabes im östlichen Drittel der Anlage entspricht Beobachtungen an anderen sogenannten Trapezanlagen der Baalberger Kultur (Schwarz 2003, 70). Direkt nördlich der Bestattung von Stelle XII fand sich unmittelbar auf dem Kies ein weiteres «plattgedrücktes» Skelett (Stelle XIV), jedoch ohne Beigaben (Abbildung 5). Die Ausrichtung des Toten entsprach jener der Bestattung von Stelle XII, weshalb zu vermuten ist, dass es sich hier ebenfalls um ein Grab der Baalberger Kultur handelt – mehrere Bestattungen innerhalb von Trapezanlagen sind keine Seltenheit (Ganslmeier 2016). Dass die beiden genannten Gräber oder gar die gesamte Einfriedung mit einem Hügel bedeckt waren, dafür spricht die Bestattung von Stelle VII, welche wenige Meter östlich der Grabanlage entdeckt wurde und sich vermutlich unmittelbar an dieser orientierte. Es handelt sich um einen Süd-Nord-orientierten, rechtsseitigen Hocker auf einem mit Steinen eingefassten Scherbenpflaster (Abbildung 6). Als Beigabe fand sich eine mit Leiterbändern verzierte Kanne der Salzmünder Kultur (3400 bis 3100 vor Christus). Wieder innerhalb der Grabeneinfriedung und zwar im südwestlichen Teil trat eine kleine Steinkiste (Stelle IV) zu Tage, welche wenige Überreste eines Kinderskelettes enthielt (Abbildung 7). Die beiden Gefäße, Becher und Amphore, weisen das Grab der Schnurkeramik-Kultur (2800 bis 2050 vor Christus) zu. Die letzte Bestattung (Stelle XX), ein Nord-Süd-orientierter, linksseitiger Hocker mit Armschutzplatte und Glockenbecher (typisch für die gleichnamige Kultur, 2500 bis 2050 vor Christus), wurde etwa fünf Meter südlich der Trapezanlage gefunden (Abbildung 8).

 

Ein quadratisches Grabenwerk unbestimmter Zeitstellung

Um eine völlig andere Befundsituation handelt es sich hingegen bei der von P. Berger beschriebenen Grabenanlage am Osthang der Saale-Hochterrasse. Abgesehen von der zur Grabanlage der Baalberger Kultur abweichenden Position im Gelände, stimmen so gut wie keine der 1925 gemachten Angaben mit letzterer überein. Berger spricht von einer 55 Meter großen, quadratischen Einfassung, deren Ecken in die vier Himmelrichtungen zeigen. Auf Grund dieser Größe und Ausrichtung wurde im regulären Bahntrassenverlauf von 20 Metern Breite nur ein Teil der Anlage geschnitten. Die restlichen Bereiche konnten erst nach Erweiterung der Grabungsfläche gesichtet werden, was bereits darauf hinweist, dass es sich hierbei nicht um die nur zwischen 12 und 15 Meter breite Grabanlage handeln kann. Auf dieser Tatsache beruht Dieter Kaufmanns Annahme, N. Niklassons Größenangaben seien nicht zutreffend. P. Berger schreibt weiter, dass der östliche Grabenverlauf, genauer der von Osten nach Norden laufende Graben, nur einen Meter von der Böschung entfernt lag und letztere terrassenartig abgestuft war. Würde man die Beobachtungen zur Lage der Gräber mit der genannten verknüpfen, so hätte das Grab von Stelle VII unmittelbar an der Böschung gelegen, was aus keinem der Fotos hervorgeht. Für die nördliche Ecke der Einfriedung beschreibt P. Berger zudem eine etwa zwei Meter breite Öffnung. Zwischen den Grabenköpfen sollen sich zwei Reihen von Pfosten befunden haben, welche vermutlich dem Verschließen des Durchlasses dienten. Eine diesbezügliche Detailskizze findet sich in den Aufzeichnungen des Jahres 1925. Umso verwirrender erscheint es, dass sich auf der im Jahr 1915 von P. Berger angefertigten Skizze der Grabanlage ebenfalls eine Öffnung befindet. Allerdings unterscheidet sich diese Öffnung im Detail von jener der 1925 skizzierten Einfriedung. Kennzeichnend für den Durchlass bei der Grabanlage ist das scharnierartige ausbiegen des nördlichen Grabens. Eine Gemeinsamkeit zwischen beiden Skizzen besteht indes im Vorhandensein von Pfostenreihen zwischen den Grabenköpfen. Sollte die Skizze von 1915 den tatsächlichen Beobachtungen entsprechen, so ist anzunehmen, dass P. Berger diese auf die weiter östlich liegende Grabeneinfassung übertrug. Über die genannten Beobachtungen hinaus liegen uns sonst keine weiteren Hinweise zur zeitlichen Einordnung oder Funktion des Grabenwerks vor. Die geringe Breite und Tiefe der Gräben von nur 50 Zentimetern lässt hier eher an eine Palisadenkonstruktion als an eine Wall-Grabenanlage denken. Deren Position unmittelbar am Steilhang zur Saale weist zudem auf eine strategische Funktion hin. Diesbezügliche Fragestellungen lassen sich auf Grund der fehlenden Funde und Befunde im Innenareal jedoch nicht mehr zufriedenstellend klären.


Text: Martin Freudenreich
Online-Redaktion: Georg Schafferer, Anja Lochner-Rechta

 

Literatur

R. Ganslmeier, Aspekte der gesellschaftlichen Funktion und Datierung der monumentalen Grabarchitektur der Baalberger Kultur (3950-3400 cal BC). In: F. Bertemes/O. Rück, Neue Forschungen und Aspekte zur Baalberger Kultur. Alteuropäische Forschungen 9 (Langenweißbach 2016) 101-124.

D. Kaufmann, Neolithisches Grabenwerk. In: J. Jankofsky/D. Kaufmann/R. Schade (Hrsg.), Zu den archäologischen Wurzeln der Stadt Leuna. Der archäologische Wanderweg in Leuna unter Berücksichtigung jüngerer kulturgeschichtlicher Besonderheiten der Stadt mit einem kurzen Abriß der neueren Geschichte seit dem Bau der Leuna-Werke (Halle [Saale] 1998) 27–34.

G. Möbes, Baalberger Grabanlagen im Thüringer Becken. Alt-Thüringen 19, 1983, 43–58.

N. Niklasson, Neuere Ausgrabungen in Rössen. Mannus 11/12, 1919/1920 (1920), 309–337.

J. Preuss, Die Baalberger Kultur in Mitteldeutschland. Veröffentlichungen des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle 21 (Berlin 1966).

R. Schwarz, Pilotstudien – Zwölf Jahre Luftbildarchäologie in Sachsen-Anhalt (Halle 2003).

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