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Fund des Monats

Mai 2019: Hochprozentiges und Schönmachendes aus der »Scharfen Ecke«

Schankwirtschaften gelten als Brennpunkte des sozialen Lebens und waren bis weit in das 20. Jahrhundert hinein – bis zum Siegeszug von Fernseher, Sportheim und Diskothek – von hoher gesellschaftlicher Bedeutung. Kaum eine andere öffentliche Einrichtung nahm im Privat- und mitunter auch im Arbeitsleben der Menschen einen vergleichbaren Stellenwert ein.
Eine der bekanntesten Schankwirtschaften in Burg bei Magdeburg, Landkreis Jerichower Land, war die »Scharfe Ecke«. Das Gebäude lag in der Unterstadt von Burg am hochfrequentierten Rolandplatz, dem einstigen Neuen Markt, und damit an einer günstigen, publikumsfördernden Stelle (Abbildung 1).Der südliche Zugang zum Platz führte in einem scharfen Knick um die Ecke der Schankwirtschaft und verschaffte ihr seinen Namen. Das einstige giebelständige, zweistöckige Fachwerkhaus stammt in seinen wesentlichen Zügen aus dem fortgeschrittenen 18. Jahrhundert. Zu den umfangreicheren Umgestaltungen des Baus gehörte ein in der Gründerzeit erfolgter, für Lagerzwecke bestimmter nachträglicher Turmeinbau aus Backstein. In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts mehrten sich die Unfälle aufgrund des stetig wachsenden Verkehrs an der Kreuzung und der Besitzer entschloss sich die Situation durch eine Rücknahme der Eckausbildung und die Anlage eines Erkers im ersten Obergeschoss zu entschärfen (Abbildung 2).

Das Schankrecht ist erstmals für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts überliefert. Im Jahr 1819 gehörte die Wirtschaft dem Brauer und Branntweinbrenner Krepper, der zugleich als Stadtkämmerer fungierte. Angegliedert war ein Brauhaus mit vorgestelltem Wohnhaus, an dem sich an der straßenseitigen Fassade das Spruchband »1803 / OHN’ GOTTES SCHUTZ / UNSER NICHTS NUTZ / 1868 / 1884 / WAHRES LEBEN: SCHAFFEN STREBEN / 1903« befindet. Zwei zur Schankwirtschaft gehörende miteinander verbundene Keller, mit Wänden aus Feldstein sowie Gewölben und Fußböden aus Backstein, datieren aus baukundlicher Sicht älter, eventuell sogar in das 15. Jahrhundert und damit in das ausgehende Mittelalter. Die Keller-doppelung deutet auf einen erhöhten Lagerbedarf und eignet sich somit gut für einen Schankbetrieb, der gewisse Bestände an Alkoholika und anderen Getränken erforderte.

Im Jahr 2012 wurde die Scharfe Ecke unter Verweis auf die akute Einsturzgefahr abgerissen. Durch die aktuell geplante Neubebauung der Brache bestand die Notwendigkeit, eine archäologische Grabung durchzuführen.
Neben Resten der bereits erwähnten Kelleranlage sowie neuzeitlichen Mauerzügen und Gruben wurde ein außergewöhnlicher Befund dokumentiert, der sich als Vorratskammer der «Scharfen Ecke» interpretieren lässt. Es handelt sich um einen Einbau im Südwesten des nördlichen Kellers, der allerdings einst nicht vom Keller aus, sondern über eine Bodenluke zugänglich gewesen sein muss. Die kleine Kammer mit einer Innenfläche von circa einem Quadratmeter wird durch schwache Wände aus Backsteinen gebildet, die im Süden und im Osten auf die Wände des Kellers aus Bruch- und Feldsteinen stoßen; der Boden ist mit Backsteinen ausgelegt.
Der Raum war dicht mit Flaschen und anderen Artefakten gefüllt(Abbildungen 3 und 5). Leider wurde der obere Teil beim Abriss des Gebäudes stark in Mitleidenschaft gezogen, wobei viele Objekte offensichtlich zu Bruch gingen. Die für etliche Flaschen noch erhaltenen Pfropfen zeigen, dass die Kammer vorwiegend mit verschlossenen Flaschen mit Inhalt gefüllt gewesen sein muss und es sich nicht um eine Entsorgungsstelle handelt.

Zu den Funden zählen einige Fragmente von Tonpfeifen. Eine Fersenpfeife mit großem Kopf trägt eine Schlange als Herstellermarke, die im niederländischen Gouda bis 1808 in Gebrauch war. Die Kopfform lässt jedoch auf eine jüngere Nachahmung deutscher Pfeifenbäcker nach 1815 und vor 1900 schließen. Außerdem konnten 18 Münzen – Pfennige, Groschen und Thaler – mit Prägezeiten zwischen 1772 und 1837 geborgen werden (Abbildung 6). Zu den weiteren Funden zählen ferner ein Knopf, ein Lederriemen, ein Topf und eine Schale mit Lehmglasur sowie eiserne Scharniere und Beschläge, die mutmaßlich von der hölzernen Bodenluke herrühren.

Nicht unerwähnt bleiben sollen drei Flaschen von Dr. Dralle's Birken-Haarwasser aus der Zeit um 1910 (Abbildung 7). Die jugendstilartig anmutenden Etiketten zeigen eine Frau mit wallendem, langen Haar und tragen den Werbespruch »einmal probiert unentbehrlich«. Außerdem fanden sich drei Flaschen mit Thymianextrakt aus dem «F. Walther chemisch Pharmazeut laboratorium Strassburg» ein (Abbildung 7). Die Stücke zeugen von Gesundheits- und Körperpflege.
Den Marken und den zum Teil erhaltenen Etiketten auf zahlreichen Steinzeugflaschen nach zu urteilen wurde in der Schankwirtschaft in großen Mengen Steinhäger Wacholderwasser, eine Spirituose aus den ostwestfälischen Brennereien H. W. Schlichte und H. C. König konsumiert (Abbildung 7). Der Steinhäger-Werbeslogan von H. W. Schlichte lautete «Trinke ihn mäßig, aber regelmäßig».Es schließen sich weitere Glasflaschen verschiedener Schnäpse an.

Mit der Eigenerzeugung hochprozentiger Alkoholika lassen sich etwa 30 Fläschchen »Reichel Essenzen« in Verbindung bringen (Abbildung 8). Diese wurden von Dr. Otto Reichels Firma mit Sitz in Berlin vertrieben. Daneben brachte Otto Reichel Werbehefte mit Titeln wie »Der kann lachen! - er macht auch seine Liköre selbst mit Reichel Essenzen aus Kräutern und Früchten«, »Rezept-Büchlein zur Selbstbereitung von Branntweinen und Likören von Dr. Otto Reichel, Berlin« und »Das ABC der guten Schnäpse« auf den Markt.

Weiterhin konnten einige Bierflaschen mit Bügelverschluss der lokalen Brauereien »Feldschlösschen Brauerei Burg« und der zur Schankwirtschaft gehörigen »TH. Krepper Brauerei Burg« geborgen werden (Abbildung 9). Zwei kleine Likörgläser runden das Ensemble ab (Abbildung 10).
Insgesamt lassen die Funde aus der Vorratskammer der »Scharfen Ecke« auf das gesellige Treiben in der Schankwirtschaft im 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts schließen. Warum und unter welchen Umständen das Alkoholdepot in Vergessenheit geriet, bleibt indes ungewiss.
 

Text: Donat Wehner, Olga Angold
Online-Redaktion: Imke Westhausen, Anja Lochner-Rechta

 

Literatur

G. Mittendorf, Zur Geschichte Burgs während des Absolutismus. Veröff. Burger Heimatgesch. 11, (Burg 1970).

J. W. Kühne, Plan von Burg nach Abschritt und Augenmaßs aufgenommen (Burg 1852).

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