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Fund des Monats

Oktober 2014: Hoffnungsvolles aus Kiew

Ein Ei und seine Botschaft

»Je seltener ein Ei, je mehr Geschrei!« – Dieses alte Sprichwort kann man im vorliegenden Fall füglich zitieren. Denn das hier vorgestellte Fundstück findet in unserem mitteldeutschen Raum tatsächlich fast keine Parallelen. Und um ein Ei handelt es sich schließlich auch, genauer gesagt um ein keramisches Exemplar, bunt gemustert, glasiert und innen hohl (Abbildung 1). Das irdene Oval erreicht mit seinen Maßen – 46,39 Millimeter Höhe bei 29,48 Millimeter Breite – ungefähr die Größe eines Fasaneneis. Klapperkügelchen im Inneren sind ein untrügliches Indiz, dass es sich hierbei keinesfalls um ein reines Dekorationsstück handelt. Geräusche können damit erzeugt werden, allerdings nur leise, jedenfalls ungeeignet für musikalische Darbietungen oder Kinderspielzeug.
Das Rassel-Ei wurde 1996 bei archäologischen Rettungsgrabungen in Wallhausen (Landkreis Mansfeld-Südharz) gefunden. Es lag im Bereich der Bodenspuren eines rechteckigen Grubenhauses. Dieser Grundriss wiederum befand sich innerhalb der Reststrukturen weiterer derartiger Gebäude mit unvermörtelten Fundamentmauern (Abbildung 2).Gefäßscherben, kleine Metallfunde, Webgewichte und Eisenschlacke zeigen, dass dort einst ein Händler- und Handwerkerquartier stand.Der gesamte Befund lässt sich aufgrund markanter Gefäßformen und Keramikzier allgemein in das 12. Jahrhundert datieren.

Herkunft und Datierung

Das Ungewöhnliche an diesem Ei ist zunächst seine ursprüngliche Herkunft. Denn hergestellt wurde es sicherlich nicht an seinem Fundort und auch nicht in der weiteren Region. Machart und Zierstil waren zu jenem Zeitpunkt hierzulande unbekannt. Derartige Keramikerzeugnisse finden wir hingegen in stattlicher Zahl weit entfernt im Großraum Nordwestrussland, Weißrussland, der nördlichen Ukraine und einigen Exklaven an der Nordküste des Schwarzen Meeres (Abbildung 3). Im Mittelalter – also auch zu der Zeit, in die unser Fund archäologisch zu stratifizieren ist – erstreckte sich dort das Herrschaftsgebiet der Kiever Rus’, ein slawisches Großreich mit skandinavischen Wurzeln. Wegen dieses Verbreitungskerns werden die seltsamen Keramikovale »Kiewer Eier« genannt. Im slawischen Sprachraum heißen sie »Pysanky« beziehungsweise »Pisanki« (Singular Pysanka). Charakteristisch ist ihre zwei- oder dreifarbige Glasur. Doch auch einfarbige und unglasierte Exemplare sind bekannt.Aufgrund ihrer Fundverteilung ist anzunehmen, dass sie hauptsächlich in den frühstädtischen Zentren der Kiever Rus’ fabriziert worden sind, wobei die Nähe zu Byzanz die entsprechenden technologischen Fertigkeiten gefördert haben. Anhand der Fundzusammenhänge ist diese Objektgruppe in den Zeitraum vom Ende des 10. bis in die erste Hälfte 12. Jahrhunderts zu datieren.

Überregionale Marktstätten sorgten für die Verteilung der ostslawischen Rassel-Eier bis nach Mitteleuropa und Skandinavien. Vor allem bei den westslawischen Stämmen stießen die bunt glänzenden Kleinode auf große Resonanz.So erklärt sich das erhöhte Fundaufkommen im großpolnischen Raum, wo auch lokale Imitate nachweisbarsind.Westlich der Oder-Neiße-Linie – und somit auch hierzulande – sind die Keramik-Eier jedoch tatsächlich äußerst rar.Das nächstgelegene Vergleichsstück zum Wallhausener Ei kam im gut 160 Kilometer entfernten Meißen zum Vorschein, in einem hochmittelalterlichen Händlerviertel.Das fragmentarische Pendant ist mit dem gleichen Muster verziert.

Bedeutung

Doch was hat es mit diesen »Kiewer Eier« auf sich? Nun ist es kein Geheimnis, dass generell das Ei in der religiösen Symbolik die Bedeutungsfelder Fruchtbarkeit, neues Leben und Jenseitsexistenz besetzt. Als Metapher für Auferstehung, Wiedergeburt, ewiges Leben und Hoffnung ist das Ei Bestandteil vieler alteuropäischer Frühlingsriten und findet in diesem Sinne letztlich auch im christlichen Osterfest seinen Platz.
Formal stammten die »Kiewer Eier« aus einem christlich-orthodoxen Land. Denn für die Einheirat in das byzantinische Kaiserhaus ließ sich Fürst Wladimir I. im Jahre 988 nach Christus taufen. Damit unterstand sein Reich in religiösen Fragen dem Patriarchat von Konstantinopel.Doch wie bei einem angeordneten Religionswechsel – zum Teil mit Zwangsbekehrung und Massentaufe – nicht anders zu erwarten, hielt die Bevölkerung noch lange an den Kultpraktiken der Vorväter fest, so dass vielerorts pluralistische Glaubensvorstellungen den Alltag bestimmten.

Verraten die Fundstellen etwas über die Funktion der »Kiewer Eier«? Sie kamen in Siedlungen, Burgarealen und Gräbern zum Vorschein. Aufschlussreich ist hier vor allem ihre Verwendung als Grabinventar, die deutlich eine spirituelle Bedeutung erkennen lässt. In diesem Zusammenhang werden sie mitunter als »Auferstehungseier« bezeichnet. Damit stehen sie in der Tradition eines Bestattungsbrauchtums, bei dem die Grabgabe von realen Eiern für das Jenseitswohl der Verstorbenen eine Rolle spielt. Mit ihrer transzendenten Lebenssymbolik fanden sie auch in der weiteren Ahnenverehrung Verwendung. So brachte man den Verstorbenen an bestimmten Jahresterminen Eier auf die Friedhöfe. Volkskundlich ist dieser Brauch noch für manche ost- und südslawischen Gebiete beschrieben.
Ein Indiz für den magisch-volkstümlichen Charakter der »Kiewer Eier« sind schließlich auch oben genannten Klapperkügelchen. Die damit erzeugten, leisen Geräusche haben in der christlichen Liturgie keinerlei Bedeutung. Hingegen symbolisierten die zarten Laute im Volksglauben das im Verborgenen entstehende Leben. Dementsprechend wird das für diese Objektgruppe typische »Bügel-Reihen-Muster« manchmal als Lebensbaummotiv interpretiert. 
Zweifelsohne handelt es sich bei unserem Fundstück also um ein Ritualgerät aus dem slawischen Kulturraum.Hier am westlichen Rand dieser Ökumene haben nur sehr wenige Sachzeugnis der slawischen Glaubenswelt die Zeiten überdauert.

1350 km Luftlinie

Wie gelangte so ein exotisches Ritualgerät vom Dnjepr an die Helme am Südrand des Harzes und warum ausgerechnet nach Wallhausen (Abbildung 4) ? Es mag als Handelsware, Mitbringsel oder als Geschenk so weit nach Westen in die Grenzmark des christlich-römischen Abendlandes verbracht worden sein. Im besagten Datierungszeitraum dieser Objektgruppe bestanden nachweislich diplomatische und ökonomische Kontakte zwischen dem Kiewer Reich und dem mitteldeutschen Raum. Wallhausen selbst war damals kein unbedeutender Ort im mitteldeutschen Raum.Vom 10. bis 12. Jahrhundert hielten dort deutsche Könige und Kaiser zeitweilig Hof. Zum Jahre 912 erblickte Otto der Große in diesem »Burgward« das Licht der Welt. Zugleich bestätigt das Fundmilieu des vorliegenden Eies die dauerhafte Anwesenheit von Kaufleuten, die ja in dem feudalen Umfeld solvente Kunden vorfanden. Gut möglich also, dass derartige Keramikeier mit einer Gesandtschaft oder im Fernhandel nach Wallhausen kamen. Wie der Vergleichsfund aus Meißen zeigt, fanden die slawischen Rasseleier offenbar auch bei benachbarten fränkisch-sächsischen Christen Gefallen, allerdings losgelöst von ihrer ursprünglichen Bedeutung. Wenn nicht lediglich als dekorative Kostbarkeiten betrachtet, ließen sie sich aufgrund ihrer Lebenssymbolik kongruent auch im christlichen Sinne uminterpretieren. Vielleicht verkörperten diese Eier auch für manch einen Zeitgenossen in Wallendorf die Hoffnung auf den Fortbestand des Lebens.


Text: Arnold Muhl
Online-Redaktion: Dorothee Menke, Anja Lochner-Rechta

 

Literatur

J. Eisner, Die bunten slawischen Toneier. In: J. Frei (Hrsg.), Epitymbion Roman Haken (Prag 1958) 76–80.

I. Gabriel, Kiewer Ostereier. Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 16, 2000, 487–488.

S. Freund, Wallhausen – Ort der Könige und Kaiser. Geburtsort Ottos des Großen (Regensburg 2013).

Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 2, 1929/1930, Sp. 595-644 s. v. Ei;

Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens Bd. 6, 1934/1935, Sp. 1327-1333 s. v. Osterei.

A. Muhl, Die Hoffnung ist oval – Eine Eirassel aus der mittelalterlichen »Pfalz« Wallhausen und ihr kultureller Hintergrund. In: Arch. Sachsen-Anhalt 9 (Halle [Saale] 2018) 70-74.

P. P.  Toločko, Rom und Byzanz in der Kiever Rus’ im 10.–11. Jahrhundert. In: M. Müller-Wille (Hrsg.), Rom und Byzanz im Norden. Mission und Glaubenswechsel im Ostseeraum während des 8.–14. Jahrhunderts 2 (Stuttgart 1997) 239–246.

T. Westphalen, Kiewer Ei. In: R. Enke/B. Probst (Hrsg.), 800 Jahre Via Regia. Bewegung und Begegnung. Katalog zur 3. sächsischen Landesausstellung (Dresden 2011) 51, Nr. 2/4.

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