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Fund des Monats

September 2023: ›Der andere Sohn‹

Im Rahmen der Sanierung des St. Claren Klosters zu Weißenfels werden seit Juni 2022 archäologische Untersuchungen vor allem im Bereich des ehemaligen Kirchenschiffes durchgeführt. Seit Gründung des Klarissenklosters 1301 an diesem Ort wurde der Gebäudekomplex und besonders die Kirche, mehrfach umgebaut und erweitert. Nach Aufgabe des Klosters im Verlauf des 16. Jahrhundert und diverser Nachnutzungen als Gymnasium ›Illustre Augusteum‹ beziehungsweise Lehrerseminar, wurde die Kirche auf Grund ihres baufälligen Zustandes am Ende des 19. Jahrhunderts eingeebnet. Der Chor wurde abgetragen und auf dem heute städtischen Friedhof zu Weißenfels wieder errichtet. Alle weiteren Nutzungen griffen kaum in den Boden ein, sodass eine annähernd anderthalb Meter mächtige Erdschicht den letzten Kirchenfußboden bedeckte, als die Untersuchungen des Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt begannen (Abbildung 1).

Reste dieses letzten Fußbodens waren Ziegelsteine unterschiedlicher Größe sowie polygone Sandsteinplatten. Ein erheblicher Teil des Fußbodens war bereits vor dem Abriss der Kirche entfernt worden. Einzig die Bereiche um noch in situ liegende Grabplatten waren unberührt geblieben (Abbildung 2). Eine dieser Grabplatten (Befund 55) gehört zu einem totgeborenen Kind. Es handelt sich um das Kind des damaligen Superintendenten (1655 bis 1670) zu Weißenfels Georg Lehmann und dessen Frau Barbara.

Georg Lehmann wurde 1616 in Belgern geborgen und studierte in Wittenberg und Leipzig Theologie. 1643 wird er als Magister der Theologie erwähnt und 1652 als Sonnabend-Prediger in St. Nikolai zu Leipzig geführt. Im Jahr 1655 wurde er Superintendent in Weißenfels, wo er annähernd 15 Jahre im Amt blieb. Anschließend zog er mit seiner Frau und den drei Kindern, zwei Söhnen und einer Tochter, wieder nach Leipzig, um dort das Amt des Superintendenten auszuüben. Ebenfalls in Leipzig war er als Professor der Theologie tätig. Aus seiner Schaffenszeit sind elf Publikationen überliefert, die er selbst verfasste, an zwei weiteren war er beteiligt. Über seine Frau Barbara ist bekannt, dass sie 1623 in Leipzig geboren als Tochter des Kaufmanns Georg Wendtlandt wurde. Sie heiratete Georg Lehmann 1655, in dem Jahr, als dieser Superintendent in Weißenfels wurde. Sie starb 1692 in Leipzig, sieben Jahre später im Jahr 1699 verstarb auch Georg Lehmann in Leipzig und wurde dort in St. Nikolai beigesetzt.

Bekannt sind die bereits erwähnten zwei Söhne und eine Tochter des Ehepaars Lehmann. Die Inschrift auf der Grabplatte (Abbildung 3) lautet übersetzt: ›Der andere Sohn von Superintendent L. Georg Lehmann und seiner geliebten Ehefrau Barbara. Er wird durch den Heiligen Geist im Mutterleib wiedergeboren und wartet hier auf die Auferstehung. 21. März 1662‹. Die Grabplatte nennt keinen Namen für das bestattete Kind.

Es ist ›der andere Sohn‹, der im Mutterleib verstorben ist. Also eine Totgeburt. Üblicherweise wurden totgeborene Kinder nicht in Kirchen oder auf Friedhöfen bestattet, da sie nicht getauft worden waren, weshalb der in der Klosterkirche beigesetzte ›andere Sohn‹ auch keinen Namen trägt. Die Vermutung liegt nahe, dass die herausragende Stellung des Vaters in der Stadt Weißenfels die Beisetzung des Kindes nicht außerhalb der Kirche unter der Traufe, sondern in geweihter Erde ermöglichte. Hinzu kommt, dass mit der Reformation auch der Umgang mit ungetauften Kindern ein anderer wurde. Das Dogma, dass ungetauften Kindern, ob nun tot geboren oder ungetauft verstorben, da sie durch die Ursünde entstanden waren und ungetauft eben nicht nach ihrem Tod vor Gott treten durften, eine christliche Bestattung in geweihter Erde verweigert werden muss, wurde im protestantischen Glauben bereits im 16. Jahrhundert aufgegeben. Der evangelische Superintendent von Weißenfels Georg Lehmann setzte mit der Begräbnisstätte für seinen totgeborenen Sohn in der Kirche des Klosters St. Claren ein deutliches Zeichen für den reformierten Glauben. Diese Bestattung im Jahr 1662, nur 14 Jahre nach Ende des 30jährigen Krieges, war vielleicht nicht nur eine persönliche Herzensangelegenheit, sondern gleichzeitig ein Zeichen aus seinem Amt heraus.


Text: Madeleine Fröhlich
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta

Mehr Informationen zu den Ausgrabungen im ehemaligen Kloster St. Claren können Sie der Presseinformation ›Geschichte und Zukunft im Kloster. Archäologische Ausgrabungen im ehemaligen Kloster St. Claren in Weißenfels enthüllen spannende Erkenntnisse‹ entnehmen.

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