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Fund des Monats

August 2003: Die älteste Zahnbürste Sachsen-Anhalts

Alltägliche Gegenstände sind für uns heute so selbstverständlich, dass wir uns kaum die Verhältnisse früherer Jahrhunderte ohne diese Dinge vorstellen können. Als ein Beispiel sei hier die tägliche Zahnpflege genannt.

Ausgrabungen auf einem Hinterhof eines im frühen 18. Jahrhundert errichteten barocken Repräsentativbaues im Zentrum von Quedlinburg brachten im Mai 2003 einen kleinen aber Aufsehen erregenden Fund zur Frühgeschichte der Zahnhygiene an Tageslicht (Abbildung 1): In einer Planierschicht des entwickelten 18. Jahrhunderts lag der Fund direkt auf einem frühbarocken Pflaster auf. Die fundreiche Schicht barg ein aufschlussreiches Fundspektrum, welches den gehobenen Lebensstil der Erbauer des Quedlinburger Stadtpalais widerspiegelt: Neben mehreren Kilo Austernschalen, zerscherbten Resten von etlichen Wein- und Portweinflaschen fanden sich über 200 Bruchstücke von zeittypischen Tonpfeifen aus niederländischer Fertigung (Abbildung 2). Die Tonpfeifen konnten einer Goudaer Manufaktur zugewiesen werden und bilden zusammen mit einer preußischen Münze sowie zeittypischer Keramik den Datierungsansatz in die zweite Hälfte des 18. Jahrhundert (Abbildung 3). Eine große Überraschung war der Fund einer zerbrochenen aber kompletten Zahnbürste aus Knochen. Der Bürstenkopf ist aufgrund der langen Erdlagerung seiner organischen Borsten beraubt, zeigt jedoch die typischen konischen und abgesetzten Bohrungen zur Aufnahme der Borsten (Abbildung 4). Diesen seltenen Fund des bislang ältesten bekannten Zahnpflegeinstruments Sachsen-Anhalts nehmen wir zum Anlass, einen kurzen Abstecher zur historischen Entwicklung der Zahnhygiene zu machen.

Zahnschmerzen waren schon auf Tontafeln und Papyrusrollen der ersten Hochkulturen ein Thema. So wurde bereits um 1800 vor Christus eine erste Theorie über die Entstehung von Karies auf einer babylonischen Tontafel festgehalten. Schuld an den Schmerzen, heißt es dort, ist ein in Schlamm geborener Wurm. Hungrig soll er den Gott der Gewässer, Poseidon, nach etwas Essbarem angefleht und sich den Platz zwischen Zähnen und Zahnfleisch als Quartier ausgesucht haben. So begann die fast 4000 Jahre überdauernde Legende vom blutsaugenden Zahnwurm, an den Zahnweh-Geplagte bis ins 18. Jahrhundert glaubten. Dabei hatte schon Hippokrates erkannt, dass Zahnschmerz durch Zahnpflege vermeidbar ist. Der große griechische Arzt der Antike schrieb um 400 vor Christus: »Die Karies wird nicht durch einen Wurm verursacht, sondern es spielen andere Dinge eine Rolle.« Und er empfahl, Zähne und Zahnfleisch täglich zu reinigen.

Im antiken Mesopotamien säuberte man die Zähne mit einer Mischung aus Baumrinde, Minze und Alaun. Im alten Indien war eine Substanz aus Berberitzen- und Pfefferextrakt gebräuchlich. In der zwölften ägyptischen Dynastie benutzten die Prinzessinnen Grünspan, Weihrauch und eine Paste aus Süßbier und Krokus. Zahnstocher aus Holz, Federkiel oder anderen Materialien waren in allen Kulturen bekannt.

Wie dem auch sei, die frühesten Zahnbürsten kamen um 1500 in China auf. Eine erste Beschreibung findet sich in einem 1719 in Leipzig erschienen Lexikon. Allerdings boten die damals ausschließlich verwendeten Naturborsten mit ihren feinen Markkanälchen ideale Schlupfmöglichkeiten für Bakterien. Auch waren die Haare insgesamt zu weich, um eine für heutige Maßstäbe ausreichende Reinigung zu erzielen.

Mitte des 19. Jahrhunderts machte die zahnmedizinische Entwicklung deutliche Fortschritte: Ein Amerikaner mixte in New York seine erste Zahncreme; der Dresdner Unternehmer Karl August Lingner entwickelte ein Mundwasser, und der Apotheker Dr. Ottomar Heinsius von Meyenburg stellte aus Naturkalkstein, ätherischen Ölen und sauerstoffhaltigen Salzen die ›Zahnreinigungspaste Chlorodont‹ zusammen. Als 1911 die von Lingner initiierte 1. Internationale Hygieneausstellung in Dresden fünf Millionen Besucher anzog, war der Weg frei: Zahnpflegemittel wurden zum Marken- und Massenartikel.

Bis dahin aber war es ein langer und dornenreicher Weg: So schrieb 1774 Lord Chesterfield bekümmert: »Ein ungepflegter Mund hat üble Konsequenzen für den Besitzer, denn einmal fördert er die Zahnfäule ebenso wie unerträgliche Zahnschmerzen, und zum anderen ist er eine Beleidigung für die Umwelt, denn unweigerlich wird er stinken.«

Bitter nur, dass es aus fast jedem Mund stank, als er dies notiert: Bis hinein ins 19. Jahrhundert wurde der Zahnhygiene in unseren Breiten kaum Bedeutung beigemessen, ist die Zahnbürste so gut wie unbekannt. Vor allem in den zuckerverwöhnten Mündern der Damen und Herren von Welt verrichteten allerlei Mikroorganismen ihr zerstörerisches Werk. Der Mediziner Thomas Einfeldt schrieb: »Es gibt von dem Leibarzt von Ludwig XIV. Aufzeichnungen darüber, dass man gesagt hat, Aristokraten hätten erblich bedingt schlechte Zähne. Und dem armen Kerl hat man schon im jugendlichen Alter sämtliche Zähne gezogen.«

In der Regel aber faulten die Zähne der Herrschaften einfach vor sich hin. Der Fächer erhielt da völlig neue Aufgaben:

»Er diente nicht nur zum Fächeln und Flirten, sondern er konnte auch ein Lächeln verbergen, das hohle Zähne enthüllt hätte, und die Nase vor dem Pesthauch eines schlechten Atems schützen. Hätte man nicht großzügig Zibet, Moschus, Ambra und andere starke Essenzen versprüht, […] so wäre es in einem Raum mit vielen Menschen nicht lange auszuhalten gewesen.«

Verlassen wir das Barock und gehen zurück ins Mittelalter: Was in Europa nur bei wenigen Anklang fand, findet um 600 in den arabischen Ländern offenbar massenhafte Verbreitung:

»Ihr sollt euren Mund reinigen, denn dies ist der Weg für die Lobpreisung Gottes.« Mit diesen Worten ist der Prophet Mohammed vermutlich der erste Mensch, der sich öffentlich für eine Pflege der Zähne einsetzte.

»Der Siwak ist ein Reinigungsmittel für den Mund, ein Wohlgefallen Gottes.«

Schnell erkannten die Araber den Zusammenhang zwischen regelmäßigem Zähneputzen und gesunden Zähnen: Der Siwak, ein pinselartig aufgefächertes Stäbchen aus faserigem Wurzelholz oder dem Holz des Arak-Baumes, auch Zahnbürstenbaum genannt, ist – bis heute – weit verbreitet. In Europa interessierten die Erkenntnisse der Araber indes kaum. Hier ging die Zahnhygiene ganz andere Wege:

»Derjenige, der zum Gedächtnis der heiligen Märtyrerin und Jungfrau Apollonia betet, wird an jenem Tag nicht von Zahnschmerz befallen.«

Das versprach die heilige römische Kirche. Und so trat im 13. und 14. Jahrhundert die Heilige Apollonia ihren Siegeszug als Schutzheilige der Zahnleiden an. Falls alles Beten nicht half, riet der Volksglaube: »Bei Zahnschmerzen den Zahn einer Leiche zu berühren.«

Das war auch damals nicht jedermanns Sache und so bemühte die Mystikerin Hildegard von Bingen wieder den altbekannten Zahnwurm als Ursache der Zahnschmerzen.

Bis ins 18. Jahrhundert verlief der menschliche Kampf gegen den Zahnwurm weitgehend erfolglos, vor allem die Damen und Herren der oberen Klassen wurden von den Folgen fehlender Mundhygiene geplagt. Während das einfache Volk auf Schwarzbrot, Kartoffeln und Äpfeln kaute und dazu Wasser oder Bier trank, schwelgten die privilegierten Bevölkerungsteile in immer ausgesuchteren Süßspeisen.

In den Mündern Nordeuropas faulten die Zähne vor sich hin. Und sie schmerzten! Dem Gepeinigten blieben zwei Möglichkeiten: Entweder ließ er den Schmerz gewähren, oder aber er suchte einen Barbier oder Schmied auf, denn gelernte Zahnärzte gibt es erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Entschiedet er sich für Letzteres, wurde er auf einem Stuhl festgebunden, dann fiel der ›Fachmann‹ mit diversen Zangen über ihn her. Und nur die Wenigsten konnten sich hierbei eine Betäubung mit Haschischrauch, Opium oder Bilsenkraut leisten. Zu den alltäglichen Folgen unfachmännischer Behandlung zählten ausgerenkte und verletzte Kiefer, Gehirnerschütterungen, durch Abgleiten der Zangen verursachte Augenschäden. Darauf folgten nicht selten Fieber, eitrige Geschwüre, starke Blutungen, – manchmal der Tod. Angesichts solcher Aussichten verwundert es kaum, dass viele Patienten lieber auf Salben, Pülverchen und Wässerchen fliegender Händler vertrauten.

Nur mühsam eroberte die Zahnbürste die deutschen Lande. Die ersten Bürsten heimischer Produktion entstanden nach dem neuen Quedlinburger Fund wohl schon im 18. Jahrhundert aus Schweineborsten und Knochen in Handarbeit und bleiben gleichfalls den Reichen vorbehalten. Erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts setzte sich das Zähneputzen langsam durch. Gleichzeitig wurden die fabrikmäßig hergestellten Zahnbürsten für fast jedermann bezahlbar - womit Rezepte wie folgendes endgültig der Vergangenheit angehörten:

»Ein Brei aus Wolfs- und Hundekot, vermischt mit faulen Äpfeln hilft gegen Zahnschmerz. Ausgefallene Zähne wachsen nach, wenn man den Kiefer mit Hasenhirn bestreicht. Am besten rückt man den Zahnwürmern mit einem Haschee aus gerösteten Hasenkopf und kleingehackten weiblichen Schamhaaren zu Leibe.«


Text: Oliver Schlegel, Anette Schneider
Online-Redaktion: Anja Lochner-Rechta

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